Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Sonntag, 10. November 2013

Hochbegabtes Treppentraining oder panische Sinnkrise?

Liebe Lilli,

oje, die Zeit rennt – schon bald ist das Jahr 2013 wieder um und wir kommen bei Prometheus-Brief Nr.50 an! 

Irgendwie macht mich das ein wenig stolz, denn wir haben damit schon länger durchgehalten als so mancher andere. Gleichzeitig spüre ich in mir den Drang, unseren Gedankenaustausch in eine andere Form zu bringen und damit auch gleich auf ein anderes Niveau zu heben: Ich denke nämlich, dass es für neu hinzugekommene LeserInnen ziemlich mühsam sein mag, unsere früheren Briefe in der richtigen Reihenfolge nachzuvollziehen. Zugleich enthalten viele unserer Texte wertvolle Berichte über die Erfahrungen unserer Coachees. Und die möchte ich gern möglichst vielen Ratsuchenden etwas unkomplizierter zugänglich machen. Lass uns deshalb darüber nachdenken, ob wir nicht nach Prometheus- Brief Nr.50 eine Pause einlegen oder sogar ganz auf ein anderes Format umsteigen. Mir gefällt die Idee, einen neuen Anfang in anderer Form zu planen. Es ist wie die erste Seite in einem ungelesenen Buch: spannend, herausfordernd, verlockend und irgendwie heiter, verheißungsvoll. (Uuuups, hat mich da schon das Weihnachts-Vorfreude-Virus infiziert?) Egal, lass uns darüber auch mit unseren LeserInnen ins Gespräch kommen. Vielleicht haben sie ja direkte Wünsche an uns, oder sie können uns Tipps geben, was sie besonders interessiert?

Also, liebe LeserInnen (ja, ich meine Sie alle, nicht nur die Hochbegabten unter Ihnen): Schreiben Sie uns, lassen Sie uns wissen, wie Sie über ein Ende oder eine lange Pause im Prometheus- Briefwechsel von Lilli Cremer-Altgeld und Karin Rasmussen denken. Vielleicht bieten die jetzt schon länger werdende Abende oder die bevorstehenden Feiertage Ihnen ja die Gelegenheit, in sich selbst hinein zu lauschen und uns Ihre Gedanken anzuvertrauen. Bleiben Sie nicht im Schatten stehen. Teilen Sie uns Ihre Wünsche mit und bitte auch Ihre Fragen und Ihre Erfahrungen. Denn sicher können davon auch andere profitieren, die vielleicht nicht den Mut zum Schreiben haben. Oder die glauben, mit ihren Problemen allein zu sein. Wir freuen uns über jede Nachricht – und wir wollen auch in Zukunft mit Ihnen in Verbindung bleiben!


© Karin Rasmussen

Liebe Lilli, Du hast so wunderbar verständnisvoll beschrieben, warum wir immer mal wieder ein ABER in uns tragen. Es ist tatsächlich genau so: „Wir sprechen deshalb mit anderen Menschen über unsere Themen, weil wir alleine nicht so richtig weiterkommen. Wir kennen doch bereits unsere Sackgasse, in die wir gelaufen sind. Aber wir erkennen noch nicht, welche Wege nach draußen führen. Zu unserem Ziel. Wir sehen das Ufer auf der anderen Seite – wissen aber nicht wie wir dahin kommen.“

Das ist genau die Situation, in der wir alle uns gegenseitig helfen können, wenn wir miteinander sprechen. Wir sind als Coaches natürlich immer zugleich in einem Prozess des Gebens und Nehmens: Je länger ich dieser Berufung folge, um so mehr lerne ich. Geht es Dir auch so? Seitdem ich verstanden habe, dass praktisch in jeder noch so verfahrenen Situation der Keim von mindestens einer Lösung steckt, macht es mir noch mehr Freude, meine Coachees auf ihrem Weg begleiten zu dürfen. Denn manches, was für den einen heute ein Problem ist, hat ein anderer schon für sich gelöst – und erzählt es mir. Und ich kann es aufgreifen, in der Erinnerung behalten und eventuell an andere weitergeben, wenn es gebraucht wird. Und das wird es garantiert irgendwann von irgendwem. Nur kommt leider nicht jeder zu uns, um uns zu fragen oder von seinen Sorgen zu berichten. Deshalb haben wir ja auch unseren Briefwechsel öffentlich gemacht – damit auch jene profitieren können, die wir nicht sehen oder von denen wir nichts erfahren. Aber: Da das Heute morgen schon Gestern ist, können sich Bedingungen und Anforderungen schnell und einschneidend ändern, und schon kann auch ein bisher ganz erfolgreicher Mensch erst mal ratlos sein. Da ist es dann gut, wenn man uns findet – und wenn wir auf mehr als nur unsere eigene Erfahrung zurückgreifen können.


© für das Foto 
über Karin Rasmussen[1]

Deine so wirkungsvolle Methode, in Alternativen denken zu lernen, kenne ich auch. Zwar habe ich nicht so viele verschiedene Sportarten ausprobiert wie Du, aber mit dem Tanzen hatte ich eine vergleichbare Erfahrung: Als Kind sollte ich unbedingt Ballettunterricht bekommen – aber die Trainer hielten mich für ungeeignet. Egal, ich wollte tanzen! Und zwar einfach nur tanzen, mich bewegen nach Musik, meine Stimmungen ausdrücken und meine Emotionen ausleben. Da ich aber keine Anzeichen von Talent für die Bühnenreife zu bieten hatte, wurde der Unterricht schnell wieder gestrichen. Stattdessen durfte ich in die Musikschule gehen und dort lernte ich Konzertgitarre spielen – ebenfalls mit durchschnittlichem Erfolg. Also war auch damit irgendwann Schluss. Es „lohnte“ sich nicht. Heute bin ich dankbar, denn mein Musikverständnis, meine Koordination und vor allem meine Freude an dem, was andere können, haben ständig zugenommen. Und zum Tanzen bin ich im späten Erwachsenenalter auch noch gekommen: In einem Profi-Senioren-Tanzclub fand ich verständnisvolle, humorvolle, tanzbegeisterte Freunde, denen meine Bühnenreife völlig egal war. Meine Freude hält bis heute an. Und manchmal tanze ich einfach so für mich Figuren nach, es scheint die mir innewohnende natürliche Bewegungsart zu sein.

Ich habe mich auch schon sehr früh für Design, Gestalt und Form interessiert und häufig mit verblüffend einfachen „Abweichungen“ von der Norm ganz erstaunliche Wirkungen erzielt. Nicht nur theoretisch, auch ganz praktisch ist so aus manchem eigentlich verunglückten Versuch etwas zu gestalten, ein kleines Kunstwerk geworden. Einzigartig, individuell und immer wieder überraschend haben sich Lösungen abseits der vertrauten Wege gefunden. Und so hatte ich auch oft ein wirklich besonderes Geschenk für liebe Menschen – was dankbar entgegengenommen wurde. Noch heute bin ich begeisterte Baumarkt-Entdeckerin und auch Bastel-Läden faszinieren mich viel mehr als Spielzeug-Geschäfte, wenn ich nach Geschenken für meine Enkel suche. Es ist diese Vielfalt an Möglichkeiten und die Einladung zum Ausprobieren, die mich auch beim Coaching immer wieder erfreut. Wir müssen unseren Coachees das ABER gar nicht abgewöhnen, sie vergessen es nahezu von selbst, wenn wir sie nach ihren Wünschen, Träumen und Stärken fragen (denn das passt meist ideal zusammen) und sie dann einladen, über viele verschiedene Wege zum Ziel nachzudenken. Alleine schon das Denken, erst recht aber das Gehen verschiedener Wege bereichert und hebt die Laune.


Und je mehr Neuerungen wir selbstbestimmt und optimistisch in unser Leben bringen – von der neuen Frisur über das neue Hobby bis hin zu den neuen Freunden und dem neuen Job – umso „fitter“ sind wir für überraschende Herausforderungen. Es ist wie beim Tanzen: Wer nur Walzer rechtsherum kann, wird nicht viel Spaß daran haben, nur schwer neue Tanzpartner finden / halten können und auf der Tanzfläche auch kaum Erfolge feiern. Eher sitzt man so am Rand herum, ärgert sich über die Musik (müssen die auch gerade Walzer spielen!?) und schaut neidvoll den anderen zu. Wer außer rechts- auch linksherum tanzen kann, kommt schon weiter. Und wer noch zusätzliche Figuren beherrscht, kann selbst die gehbehinderte Großmutter auf der Hochzeit des besten Kumpels noch auf charmante Weise mit einem Tänzchen glücklich machen. Denn nur derjenige hat wirklich die Chance auf eine selbstbestimmte Auswahl, der ein breites Repertoire/Reservoir von Lösungsmöglichkeiten kennt. Oder: der Menschen kennt, die über ein solches Reservoir verfügen und bereit sind zum Gespräch.


© Karin Rasmussen

Übrigens sind nicht nur Gespräche, sondern auch Bücher über die sich ständig ändernden Bedingungen und Anforderungen unserer Gegenwart für mich besonders spannend. Und immer wieder stoße ich dabei auf wahre Schätze:  „Wir müssen lernen, Krisen als Herausforderungen für mentale und kreative Wandlungsprozesse wahrzunehmen, anstatt uns ins warme Bett der Panik zu legen.“[2] Wie findest Du diesen Satz? Professor Horx hat auch noch andere schöne Provokationen drauf. Er fordert zum Beispiel,  gegen Regeln „auf intelligente Art“ zu verstoßen, um neue Lösungen zu finden. Als ich diesen Satz in einer Fernseh-Lektion von ihm hörte und dabei seine Augen leuchten sah, musste ich sofort wieder an ANNA denken.

Ja, Du hast Recht: Sie (wir?) machen Fortschritte. Aus den vielen ABERs werden nach und nach Ideen und Versuche für ein VIELLEICHT und sogar schon einige JAs. Und das verdanken wir neben ANNAs Mut und Kraft auch dem sehr praktikablen Konzept des Zürcher Ressourcen Modells[3] . Ich bin darüber sehr froh, denn es kostet natürlich schon Nerven und  Anstrengung, insbesondere weil es tatsächlich auch bedeutet, einiges loszulassen.

ANNA schreibt mir: „Das waren harte Nüsse, aber Sie haben mich mit Erfolg gezwungen nachzudenken. Das hat mir gutgetan, aber auch Kraft gekostet.“ Die Entscheidung für einen Neustart in einem ganz anderen Landesteil, viele Kilometer von der vertrauten Heimat, den Freunden und Kollegen entfernt – dazu eine neue Art von Arbeit und mit so wenig Sicherheit über die eigenen Potenziale (du erinnerst Dich: man hatte ihr trotz Studienabschluss immer wieder gesagt, dass sie nicht normal sei, dass aus ihr nie etwas werden würde), das Ganze auch noch kurz vor Beginn der „dunklen“ Jahreszeit – dazu gehört Mut. Und den könnte man schnell verlieren, wenn man die vielen gleichzeitig auftretenden Anforderungen und Ungewissheiten als Krise verstehen würde. Aber ANNA hat keine Panik bekommen – sie hat es nicht zugelassen. Sie hat tapfer eine Aufstellung ihrer Stärken für mich erarbeitet, so nach und nach ihre Selbstzweifel in die Ecke gestellt und ihren Blick auf die (vorläufig noch kleinen, aber stabilen) Erfolge ihrer ersten Schritte gerichtet. Sie lernt, die Entfernung, die heute noch zwischen ihr und ihrem großen Ziel liegt, nicht zu fürchten. Und sie hat erkannt, dass andere ihre Stärken auch sehen. Ihre Freunde haben ihr bestätigt, was sie selbst nicht glauben konnte: dass sie stark ist, ein wichtiger Mensch für viele andere und dass sie deshalb auch ihre verschiedenen Weges-Abschnitte nicht allein gehen muss. Jetzt sieht sie schon viel optimistischer in ihre Zukunft und traut sich auch zu, besser für sich selbst eintreten zu können.


© Karin Rasmussen

In einem nächsten Coaching-Schritt wird ANNA lernen zu akzeptieren, dass jeder Mensch seinen eigenen Rhythmus hat. Genau wie Du schreibst: „Manchmal sind Hochbegabte sehr langsam. Dann wieder sehr schnell. Beides ist richtig, wenn wir wissen, wann wir schnell – und wann wir langsam sein dürfen.“ Ich werde ihr das Buch von  Daniel Kahneman „Thinking, Fast and Slow. Schnelles Denken, Langsames Denken“[4] empfehlen. Denn ANNA ist klug und zieht aus solchen Anregungen ihre eigenen weitreichenden Schlüsse. Sie hat nur bis jetzt nicht gewusst / geglaubt, dass solche „wichtigen“ Bücher auch für sie geschrieben werden und dass sie ihnen gewachsen ist. Da hatte sie einfach das falsche „Bauchgefühl“. Sie fühlte sich durch ihre Hochbegabung verpflichtet, etwas ganz Besonderes zur Verbesserung der Welt zu leisten. Und sie fand keine Aufgabe für sich, die diesem Ziel entsprach. Doch die einfachere Frage: muss man hochbegabt sein, um Gutes zu tun, die konnte sie sehr schnell beantworten! Und seitdem weiß sie auch, dass alles was sie tut, etwas Besonderes ist – dadurch, dass sie es TUT und WIE sie es tut. Das hat viel Druck von ihr genommen, denn sie misst sich selbst jetzt nicht mehr an irgendwelchen Berühmtheiten, sondern sie fragt sich jeden Tag: Habe ich mein Bestes gegeben? Du ahnst es schon: Sie kann immer öfter JA zu sich selber sagen. Und siehe da – sie schafft mehr, ist fröhlicher und hat sich sogar schon vorgenommen, ihre Magisterarbeit zu beenden.

ANNA und alle unsere LeserInnen, jeder einzelne von uns, hat gute Chancen, auf diesem oder ganz anderen Wegen näher zu sich selbst zu finden. Denn wenn die Prognosen stimmen[5], dann bewegt sie die gesellschaftliche Entwicklung der ganzen Welt in eine Richtung (die sechste Welle des Kondratiew-Zykluss), in der jeder Einzelne mit all seinen Fähigkeiten in seiner individuellen Unverwechselbarkeit dringend gebraucht wird und gleichzeitig zum ersten Mal in der Geschichte auch die Chance bekommt, seine Potenziale frei zu entfalten. Wir werden vielleicht für die Umstellung in unserem Denken eine längere Zeit brauchen als für die Veränderung unseres alltäglichen Tuns. Und deshalb, liebe Lilli, werden wir zwei wohl noch viele schwierige Fragen zu hören bekommen. Ich freue mich darauf! Und ich reagiere – mal schneller, mal langsamer – mit der Suche nach neuen oder anderen Wegen, für mich, für meine Coachees, für die Lösung der Fragen unserer Zeit. Ich danke Dir, dass Du dabei an meiner Seite bist und wir uns immer wieder gegenseitig inspirieren können.

Liebe Lilli, ich wünsche Dir für die Adventszeit immer wieder geruhsame Stunden mit einem Buch am Kamin oder mit fröhlichen Gedanken im Freien – auf jeden Fall aber wünsche ich Dir viel Freude und gute Gesundheit.
Und wenn Du magst, auch Verse – heute mal nicht von unserem Lieblings-Goethe, sondern von einem, der trotz vieler selbstgeschaffener Qualen die Welt klug bereichert hat.

Sei umarmt
Deine Karin



© für das Foto 
über Karin Rasmussen


Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse (1877-1962), 1941





[1] Skulptur von Karl Ulrich Nuss aus dem Zyklus „Zehn Paare“ (2008)
in der Skulpturenallee Strümpfelbach
[2] Prof. Matthias Horx, Zukunftsforscher, http://www.horx.com/Reden/Future-Markets.aspx  
[3] Maja Storch, Frank Krause: Selbstmanagement- ressourcenorientiert. 4. Vollständig überarbeitete Auflage, Verlag Hans Huber 2011, ISBN 987-3-456-84444-2
[4] Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken
[5] Die 6. Welle im Kondratiew-Zyklus stellt ins Zentrum der Entwicklung, was HB schon heute als entscheidende Entwicklungsbedingung fordern und brauchen: Kooperation auf der Basis von Vertrauen, Bildung, Gesundheit, intelligente Netzwerke und Biotechnologie, nachzulesen z.B. unter: http://www.kondratieff.net/19.html, siehe auch Horx, http://www.horx.com/Reden/Future-Markets.aspx