Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Sonntag, 23. Juni 2013

Warum nicht mal ein Sommermärchen?

Denn die einen sind im Dunkeln
und die andern sind im Licht
und man siehet die im Lichte
die im Dunkeln sieht man nicht.

Bertolt Brecht, Dreigroschenoper

Liebe Karin,

ich danke Dir, dass Du den Heldentaten des Hochwassers Wort und Bild gewidmet hast. 

Es hat mich berührt, wie Menschen spontan füreinander da waren und die Not der anderen lindern konnten. Den eigenen Alltag zurückstellen, Kopf und Herz frei machen und schauen: Wo kann ich anpacken? Wo kann ich meinen Beitrag leisten? Nicht selten ging es um Leben und Tod. Diese Menschen haben auch meine Hochachtung.

Dann kam der Taksim-Platz.

Und mit ihm der heldenhafte Einsatz für demokratische Werte:  Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Zusammenhalt, Dialog und Wahrheit sind Themen, denen sich die Menschen nach meiner Beobachtung immer mehr verpflichtet fühlen. Und aus den Vielen, die sich mutig engagieren und ihren Vorstellungen einer modernen Demokratie den Weg weiter ebnen wollen – kristallisieren sich bald zwei Männer heraus, die von den Medien als Helden gefeiert werden: Zum einen der  von den Beatles inspirierte Pianit Davide Martello aus Konstanz am Bodensee (1). Über ihn schreibt die Sächsische Zeitung: „Auf seiner Facebookseite hatte der im Schwarzwald aufgewachsene Sizilianer seinen Besuch in Istanbul angekündigt: ‚Ich werde mit meinen Kompositionen die konservativen Politiker umstimmen“, schrieb der 31-Jährige auf Englisch. ‚Ich werde für die Polizei spielen und für die Menschen, weil wir alle eine Familie sind.‘“ (2).

Zum anderen ist es Duran Adam mit seinem stillen Protest (3), über den SPIEGEL ONLINE informiert: „Stumm steht er da, stundenlang. Mit seinem lautlosen Protest auf dem Taksim-Platz in Istanbul hat ein junger Türke weltweit Aufsehen erregt, Bilder und Tweets verbreiteten sich rasant. (…) Später stellt sich heraus: Bei dem Duram Adam handelt es sich um einen türkischen Choreografen namens Erdem Gündüz. Er ist jetzt ein Held. Einer von vielen Helden der Revolte.“ (4)

Diese Helden mögen uns daran erinnern, was in uns und mit uns möglich ist. Wenn wir unseren Geist und unser Herz öffnen und zulassen, dass wir unsere Talente leben.

Bei Davide Martello und Duran Adam/Erdem Gündüz musste ich sehr an die Hochbegabten denken, die ich kenne – und die in ihrer eigenen Welt bereits authentisch gehandelt haben. Mutig dem eigenen Weg gefolgt sind. Auf die innere Stimme horchend.

Ich kann Dich gut verstehen, wenn Du von einem „Chor“ sprichst, wenn Du an Deine Stimmen denkst: „Bei mir ist die innere Stimme oftmals ein übender Chor! Es sind viele Stimmen und sie sind nicht auf Anhieb harmonisch. Geht es Dir auch manchmal so? Da kommen Gedanken und Gefühle, die irgendwie nicht so ganz zueinander passen wollen. Exoten sozusagen: Kratzig schön manchmal, ungewohnt, fremd.“

Ja, Karin, immer die vielen Stimmen. Das wurde auch mir  irgendwann zu bunt. Und so habe ich angefangen, Interviews mit den „Chormitgliedern“ zu führen. Als sie erkannten, dass jede von ihnen gehört wird, wurde es besser. Aber es dauerte Jahre bis ich mit allen gesprochen hatte – mir ihre Argumente angehört habe. Es erinnerte mich durchaus an Demos – nur, dass hier fast jede Stimme etwas anderes wollte. Mit sehr viel Geduld und Liebe gibt es jetzt ein inneres „Parlament“ und wir arbeiten – zumeist – vertrauensvoll und kooperativ miteinander. Es war Arbeit – aber die Mühe hat sich gelohnt. Innerer Frieden oder auch Zufriedenheit sind jetzt keine Fremdworte mehr. Nun ja, immer öfter.

Widersprüche erkennen und analysieren. Liebe Karin: Danke für Deine „Widersprüche!“ Danke sehr für Deine „Widersprüche!“  Ich bin in der Tat seit Wochen in „Widersprüchen“ unterwegs.

Geistig gesehen. Denn wieder einmal arbeite ich mit der Krisenspirale (5) von Erika Schuchardt. Sie hat in ihrer Untersuchung erkannt: „GLÜCK IST ERLERNBAR UND LEHRBAR.“ (6) Wenn Glück erlernbar ist – wieso nicht auch für die Krisengebiete dieser Welt? Gerade weil Glück aus der Krise erarbeitet werden kann? (7)


Foto: Saskia-Marjanna Schulz



Noch bevor das Hochwasser kam, stellte ich mir die Frage: „Wie ist es möglich, dass Menschen in Krisengebieten  glücklich werden können?“ Ich weiss, es hört sich an wie eine reine Utopie. Wenn wir an Krisengebiete denken, dann haben wir Syrien, Afghanistan, Irak, Libyen, Somalia vor Augen. Aber auch Haiti, Jemen, Mali. Zum Teil Kamerun, Kongo, Libanon, Nigeria, Pakistan u.a.m. (8)

Wie können die Menschen dort glücklich sein? Sie sind vielleicht dankbar, wenn sie nicht in direkter Gefahr leben. Wenn sie genug zu essen und zu trinken haben und ein Dach über dem Kopf. Wenn keine Waffen auf sie gerichtet sind, sie nicht entführt und misshandelt werden. Glück?

Ich denke, ich muss ein wenig ausholen, um zu erklären, was ich meine. Vielleicht magst Du Dir einfach einen Tee einschenken und mir auf dem Weg meiner Vision folgen – einer Vision, die nur auf den ersten Blick so ganz und gar nach Grimms Märchen aussieht. Vielleicht darf ich Dir zur Beruhigung sagen: Ich habe als Redakteurin für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) den „Informationsdienst Entwicklungspolitik“ geschrieben. (9) Dies war das offizielle Papier des Ministeriums an alle deutschen Botschaften dieser Welt, für den Deutschen Bundestag, für alle entwicklungspolitischen Journalisten u.a.m. Jeden Tag landeten ein paar Pfund Weltpresse über Aussen- und Entwicklungspolitik auf meinem Schreibtisch. Und so näherte ich mich dem Thema „Menschen dieser Welt“ jeden Tag ein bisschen mehr.

Und was hat das mit Glück zu tun?
Gemach. Gemach. Es kommt gleich.

Meine Arbeit führte mich auch zu Gesprächen und Interviews mit Menschen, die sich Gedanken über das Leben der Menschen gemacht haben. Und wie das Leben zum Besseren entwickelt werden kann. Ein solcher Mensch ist Erika Schuchardt. (10) Die Professorin für Bildungsforschung und Erwachsenenbildung an der Universität Hannover hat Erfahrung als Vizepräsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission und als Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich interessier(t)e mich für eines ihrer Bücher: „Warum gerade ich...? Leben lernen in Krisen (…). Fazit aus Lebensgeschichten eines Jahrhunderts.“ Basis sind 2000 Lebensgeschichten sowie rund 30 Bildungs-Pilotprojekte eines Jahrhunderts.

Und Schuchardt sagt: „GLÜCK IST ERLERNBAR UND LEHRBAR.“

Ihre Studie (11) zeigt: wenn Menschen eine Krise erleben und durchleiden (Verlust des Arbeitsplatzes, Geburt eines behinderten Kindes, Tod eines geliebten Menschen,  Folgen von Naturkatastrophen, Flucht u.a.m.) kommen sie nicht nur gestärkt da draus hervor, sondern diese Menschen haben dann auch die Stärke, anderen die Hand zu reichen und ihnen zu helfen ebensolches durchzustehen. Menschen, die dies durchgestanden haben, sagen am Ende dieser Krise, dass sie Glück empfinden.

Aber: Was ist Glück? Verstehen wir Menschen alle dasselbe darunter oder ist Glück für jeden etwas anderes?


Privat


Der griechische Philosoph Epikur von Samos (341 - 270 v. Chr.) sagte einmal: „Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinem Reichtum hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen.“

Dem entgegnete Aurelius Augustinus (354 - 430): „Glücklich ist, wer alles hat, was er will.“

Streben alle Menschen nach Glück? Und was meinen sie damit? Lebensfreude? Reichtum? Liebe? Gesundheit? Erfolg? Intelligenz?

So ganz einfach kann die Beantwortung dieser Frage nicht sein. Denn mir ist aufgefallen, dass zwei wissenschaftliche Grossforschungsprojekte mit dem Anspruch, zu wissen, wo die Menschen glücklich sind – zu recht unterschiedlichen Ergebnissen kommen. „Widersprüche!“

Das Forschungsinstitut Gallup (12) hat die Frage gestellt: „In welchem Land der Welt sind die Menschen am glücklichsten?“ (13) Und „dazu eine weltweite Umfrage in 148 Ländern durchgeführt und die Ergebnisse jetzt (2012, Anmerkung von mir) veröffentlicht. Jeweils 1000 Menschen ab 15 Jahren wurden in Telefoninterviews und persönlichen Interviews fünf Fragen gestellt, um das Glück zu messen.“ (14)

Und was meinst Du Karin, welches Land Sieger ist? Oder besser gesagt: Welche Länder stehen auf der Hitliste ganz oben? Die reichen Länder in Europa wie etwa die Schweiz oder Deutschland? Oder vielleicht Singapur?

Ich stelle mir vor, Du schlürfst Tee und denkst: Ach, Lilli – ich lese doch auch Zeitung! Klar. Weiss ich.

Ja, hätte ich mir denken können. Und? Warst Du auch so überrascht wie ich: Die unglücklichsten Menschen leben in Singapur! (15) Das wissen wir schon: Geld macht nur bedingt glücklich. (16)

Die Sieger?

Platz 1: Panama und Paraguay (jeweils 85 Prozent der Befragten sind glücklich)

Platz 2: El Salvador und Venezuela (jeweils 84 Prozent der Befragten sind glücklich)

Platz 3: Thailand, Trinidad und Tobago (jeweils 83 Prozent der Befragten sind glücklich) (17)


Der "World Happiness Report" der New Yorker Columbia University (18) hat andere Länder als „Glücksländer“ identifiziert: „Die glücklichsten Menschen leben in Nordeuropa (…) Dänemark, Finnland, Norwegen stehen an erster Stelle, gefolgt von den Niederlanden, Kanada, der Schweiz, Schweden …“ (19) Auch diesmal ist Deutschland nicht unter den ersten Plätzen: „Die Bundesrepublik belegt Platz 30, nach Italien und Kuwait.“ (20)

Foto: Saskia-Marjanna Schulz

„Widersprüche!“

Die Widersprüche sind wahrscheinlich ganz leicht zu dechiffrieren: Wenn wir die beiden Forschungsdesigns nebeneinander legen, lassen sie sich einfach entschlüsseln. Wir müssen fragen: Wer? Will? Was? Warum? Wissen? Und natürlich: Wie wird „Glück“ operationalisiert? Was GENAU verstehen die Menschen in Trinidad und Tobago – in Norwegen und Finnland unter Glück? Warum fühlen sie sich glücklich? Was ist ihnen wichtig?

Und Du hast Dir schon die zweite Tasse Tee eingossen?

Auch wenn einzelne Menschen, Völker und Kulturen etwas anderes unter Glück verstehen als andere – so gibt es doch Gemeinsamkeiten: Glück muss m.E. assistiert werden von Frieden und Freiheit. Oder kannst Du Dir ein wirkliches Glück in Unfreiheit und im Unfrieden vorstellen?

Warum können wir den Menschen also nicht einfach sagen:

O „GLÜCK IST ERLERNBAR UND LEHRBAR.“ UND:
GLÜCK MACHT GESUND!!!
O Deshalb: Lerne und lehre Glück!

Glück fördert die psychische und physische Gesundheit, begünstigt den beruflichen Erfolg und erleichtert das Lernen. Zu diesen Ergebnissen kommen die Autoren Anton Bucher (21) und Philipp Mayring (22) in ihren jeweiligen Büchern: "Psychologie des Glücks".

Und jetzt komme ich zu dem Sommer-Schmankerl für Hochbegabte. Für die,

o die eloquent sind – und/oder
o genial organisieren können – und/oder
o vielsprachig arbeiten – und/oder
o interkulturell denken und handeln – und/oder
o starke Managementqualitäten aktivieren wollen.

Für all diese habe ich eine echte Herausforderung: GLÜCK FÜR SYRIEN – Land am Mittelmeer! (23) Eine gute Chance, 'German Angst' und 'German Zweifel' zu besiegen! Und – so Schuchardt in persönlichen Gesprächen – selbst vom Glück zu partizipieren. Denn auch die Glücks-Helfer können ihre Lebenssituation optimieren.

Dazu gibt es eine Geschichte: Es war in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts – und es hört sich an als wäre es im Mittelalter gewesen. Denn: Es gab noch kein Internet. Die meisten Menschen hatten nicht einmal ein Mobiltelefon. Man traf sich noch persönlich. Und manchmal schrieb man sich Briefe. Mit der Hand.

In dieser Zeit hatte ich von Freunden gehört, dass ein besonderer Bestseller-Autor nach Köln kommen wollte. Einer, der eben sehr angesagt war – und von dem wir uns neue Erkenntnisse als Coach erhofften.

Der Ankunftstag kam. Und ich war heiser. Eine Stimme wie ein Reibeisen. Aber ganz tapfer machte ich mich auf den Weg durch Eis und Schnee – allein, denn meine Freunde hatte es noch schlimmer erwischt.

Ich wollte ihm Fragen stellen. Aber das ging nicht. Und so konnte ich einfach nur zuhören und mitschreiben. Ich hoffte: Irgendetwas Geheimnisvolles hat er zu erzählen. Darüber wollte ich einen Artikel schreiben.

Foto: Saskia-Marjanna Schulz


Und dann kam sie. Die Geschichte – die wahre Geschichte – auf die ich unbewusst gewartet hatte. Der Autor erzählte und ich machte mir Notizen: „In den frühen 70er Jahren haben wir oft zusammen gesessen und über Politik geredet. Wir haben uns gefragt, was sind die Krisengebiete dieser Welt? Wo können „wir“ was tun? „Wir“ – das waren andere Denker, Hochbegabte, Autoren, Redner, Therapeuten. (…)

Uns allen war die Methode der Visualisierung und die Methode des Gebetes bekannt – und die Kraft, die sie schon ausgelöst hatte. Und so bildeten sich überall auf der Welt Gesprächskreise, in denen diskutiert wurde: Was können wir tun? Wo? (…) Und schliesslich: Was wollen wir denn erreichen?

Einer von uns hatte dann die Idee: Wir verabreden uns dazu, dass wir gemeinsam eine Nacht lang visualisieren und beten. Für die Freiheit! Für den Ostblock!

In der Silvesternacht 1979/80 waren es dann soweit: Über eine Million Menschen überall auf der Welt haben mitgemacht. All diese Menschen beteten. Und: All diese Menschen stellten sich vor, dass die UdSSR frei sein würde.


Foto: Saskia-Marjanna Schulz


Keine sechs Jahre später kam Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Die Berliner Mauer fiel am 9. November 1989.“

Nein. Sowas konnte ich nicht schreiben. Das würde mir nie jemand glauben. Eine so verrückte Geschichte.

Genau so verrückt wie die Idee sich im Sommer 2013 zu verabreden, um für Silvester 2013/14 zu visualisieren und zu beten: GLÜCK FÜR SYRIEN. Vielleicht gar über Twitter und Facebook? Nein. Das wäre wirklich – zu verrückt. Wer könnte nur auf solch eine bizarre Idee kommen?

Karin, ich umarme Dich!

Ich freue mich schon auf Deine Mail – am 15. September.

Glückliche Sommerferien,

Deine Lilli



Foto: Saskia-Marjanna Schulz

2 a.a.O.
3 Tagesschau: Türkei: Stiller Protest auf dem Taksim-Platz
4 SPIEGEL ONLINE
5 Erika Schuchardt: Krisenspirale/ Krisen-Management-Interaktionsmodell
6 a.a.O.
7 Schuchardt, Erika: Warum gerade ich...? Leben lernen in Krisen, Leiden und Glaube: Leiden und Glaube. Fazit aus Lebensgeschichten eines Jahrhunderts.
8 Aktuelle Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes
9 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ)
10 Erika Schuchardt http://www.prof-schuchardt.de/ ,
11 Schuchardt, Erika: Warum gerade ich...? - Leben lernen in Krisen - Fazit aus Lebensgeschichten eines Jahrhunderts. (Kurzinhalt)
13 Handelsblatt vom 20.12.2012, 14:24 Uhr
14 a.a.O.
15 a.a.O.
16 vgl. dazu Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman und Ko-Autor Angus Deaton in ihrer Studie für die Universität Princeton: High income improves evaluation of life but not
17 Handeslblatt a.a.O.
18 Der "World Happiness Report" der New Yorker Columbia University
19 Die glücklichsten Menschen leben in Nordeuropa
20 a.a.O.
21 Bucher, Anton: Psychologie des Glücks: Ein Handbuch
22 Mayring, Philipp: Psychologie des Glücks
24 Saskia-Marjanna Schulz http://yesbusinesscoach.blogspot.de/

Sonntag, 9. Juni 2013

Diesmal über Moral, Wahrheit und Wissenschaft

Liebe Lilli,

herzlichen Dank Dir für Deine immer wieder schwungvollen Denk-Kreise! Sie zu lesen bereitet mir so viel Vergnügen, dass ich bei jeder neuen Runde (ich lese immer mehrmals, was Du mir schreibst) in Gedanken mit Dir spreche. 

Manchmal sind das abendfüllende Diskussionen. Und natürlich rede ich auch mit Freunden und Bekannten über unseren Austausch – es eröffnen sich immer wieder neue Horizonte! Und zwar genau durch das, was auch Dich so begeistert: das Andere. Nicht die Gleichheit der Gedanken macht es so interessant, sondern die Erweiterungen, Ausdeutungen, Assoziationen und – ja – auch die Widersprüche! Und manches, was im ersten Hören/Lesen irgendwie nicht „richtig“ erscheint, stellt sich als wertvolle Wahrheit heraus, genauso wie umgekehrt auch Wahrheiten widerlegt werden können.

Ich bin Dir sehr dankbar für Deine zwei Geschichten von Hochbegabten, die es moralisch ganz wichtig fanden, auch die Wahrheit über ihre Schwächen auszusprechen: Da ist die außergewöhnlich kluge, Nobel-Preis-verdächtige Physikerin, die mit ihren Haaren nichts anzufangen weiß (haha, ist das vielleicht ein Einstein-Paradoxon?) und dann Uwe, der wegen seiner sächsischen Muttersprache beinahe auf eine tolle Job-Chance verzichtet hätte.

Nun ja, auch ich kenne die Abwehr-Reaktion von Hochbegabten auf Lob: „Ich bin gar nicht so toll, ich habe auch Schwächen.“ Natürlich bin ich wie Du der Meinung, dass es möglich ist, wirklich kritisch und zugleich wertschätzend zu sein. Auch zu sich selbst! Aber was verbirgt sich denn hinter diesen einschränkenden, abwehrenden und abwertenden Wahrheiten? Ist es der Versuch, das „Ganze“ zu sehen, auch die zweite Seite der Medaille ins Kalkül zu ziehen, oder ist es eher dem Wunsch nach Gemeinschaft und Gleichheit geschuldet? Ist es das Bedürfnis, von anderen als normal, als Ihresgleichen akzeptiert zu werden, nobody is perfect? Oder soll damit gar den zu hohen Erwartungen der Anderen vorgebeugt werden, dass man ständig und in jeder Beziehung Großartiges zu leisten imstande wäre? Genügt man eher der Konvention, bescheiden aufzutreten? Wie moralisch sind solche Wahrheiten? Und wie nachhaltig?

Du erzählst ein Beispiel vom sächsischen Ingenieur, der lieber zu Hause bleiben wollte statt einem tollen Arbeitsangebot nach Süddeutschland zu folgen mit der Begründung: „Die können meine Sprache nicht verstehen.“

Als ich das las, fielen mir die zahlreichen unseligen „Witze“ ein, die über andere Kulturen einschließlich verschiedener Mundarten so kursieren. Es muss gar kein anderes Volk, keine andere Religion sein, wir finden ja bereits den Nachbarn komisch, der einen anderen Dialekt hat als wir – und schon geht das Lästern los. Dabei war Sächsisch mal eine (europäische) Weltsprache! Und wenn man heute in Afrika, Asien oder woanders in der weiten Welt einem sächsisch sprechenden Fachmann begegnet, dann ist man erfreut und stolz, dass er in Deutschland studiert hat? Da hat man plötzlich nichts mehr zu lästern? Nein, ganz besonders nicht, wenn man die Muttersprache dieses Fachmannes selber gar nicht beherrscht!

Du schreibst: „Gleichwohl gibt es doch hier und da gelungene Annäherungsversuche... Ich denke, wenn wir den Mut haben auf unsere innere Stimme zu hören, dann werden wir den richtigen Weg für uns finden. Und die innere Stimme ist ja bei Menschen mit Hochbegabung besonders gut ausgeprägt. Hochsensibel und feinsinnig wie sie halt sind. Wertschätzung tut gut.“

Allerdings, liebe Lilli: Bei mir ist die innere Stimme oftmals ein übender Chor! Es sind viele Stimmen und sie sind nicht auf Anhieb harmonisch. Geht es Dir auch manchmal so? Da kommen Gedanken und Gefühle, die irgendwie nicht so ganz zueinander passen wollen. Exoten sozusagen: Kratzig schön manchmal, ungewohnt, fremd.



Fremd und kratzig schön! © bei Karin Rasmussen


Eben: Ungewohnt, fremd, aber nicht falsch und auch nicht gleich böse! Das ist wahrscheinlich das Wichtigste, was ich im Lauf meines Lebens gelernt habe. Nicht immer ist sofort klar, was das Beste, was das Richtige oder das Gute ist. Und meist gehören Widersprüche zur Normalität. Auch Probleme zu haben, ist kein Fehler, den man sofort berichtigen muss. Im Gegenteil - so wie ein Chor bei nur einer Probe keine wahre Meisterschaft erringen kann, sondern erst nach einem intensiven Lern- und Abstimmungsprozess die erwünschte Harmonie  erreicht, braucht auch die innere Stimme manchmal mehrere Versuche für eine akzeptable Lösung. Bei Hochbegabten kann das sogar noch etwas länger dauern, denn die Vielzahl der Argumente und Gefühle kann durchaus ein beträchtliches inneres „Stimmengewirr“ erzeugen.

Und dann bin ich immer sehr froh, wenn sich ein geduldiger und wertschätzender Gesprächspartner findet. Jemand, der/die nicht mit dem wohlfeilen Rat kommt „Du musst doch wissen, was Du willst!“ oder gar eine/r, der/die mir sagt „also ICH an Deiner Stelle würde…“

Sondern ein Mensch mit gesundem Selbstbewusstsein, der offen sein kann für Ungewohntes. Und der mir dadurch hilft, mich selbst besser zu verstehen. Und mich danach wieder zurecht zu finden und einzuordnen in das Gemeinsame, das Ganze. Also jemand, der nicht aus meiner Fremdheit oder meinem Anders-Sein gleich einen Fehler machen muss, um sich dadurch selber gut zu fühlen. Und der auch nicht erwartet, nur Bekanntes von mir zu hören.
Da ich keinen Chef habe, muss ich mir diese Offenheit auch nicht von einem Vorgesetzten für mich wünschen. Aber ich wünsche sie mir immer für meine Coachees! Ich wünsche ihnen Manager/innen, von denen sie „ernst gemeintes positives Feedback, möglichst zeitnah und nachvollziehbar bekommen. Die Ausgrenzungen und Lästereien verhindern und offen sind für Verbesserungsvorschläge.“ (1)  Diese Hoffnung haben nämlich die meisten. Sie vertrauen ihren Vorgesetzten so lange, bis sie enttäuscht werden. Und dann ist es oft unsere Aufgabe als Coach, das verloren gegangene Selbstvertrauen wieder herzustellen, die Selbstachtung zu unterstützen und zu ermutigen – kurz: Die vorhandenen Ressourcen und Potenziale wirksam zu machen, indem wir ihnen die gebührende Wertschätzung erweisen. Mögen sie auch noch so ungewohnt und fremd erscheinen. Vielleicht steckt ja in einer exotischen Idee der Keim für ungeahnten Fortschritt?


Es wird… was? © bei Karin Rasmussen


Möglicherweise verbirgt sich da ein Nutzen für die ganze Menschheit? Es soll auch schon Erfindungen gegeben haben, die nicht von Nobelpreisträgern kamen! (Bitte verzeih die Ironie, ich denke gerade an die Sicherheitsnadel, aber das ist nur ein Beispiel). (2)

Aber selbst wenn es nicht gleich um revolutionär Neues oder besonders Schönes geht – oft kann einfaches wertschätzendes Zuhören und Akzeptieren schon den von Dir aus der Gallup-Studie von 2012 erwähnten Schaden verhindern! (3)

In meinen Seminaren kann ich immer wieder feststellen, dass es auch Führungskräfte gibt, die anerkennen wollen, aber nicht wissen, was und wie. Warum fragen die nicht danach einen Coach? Wir sind ja eher nicht zur „Fehlerbehebung“ da, sondern unsere Aufgabe ist es, die vorhandenen Ressourcen und Potenziale wirksamer zu machen! Das geht auch indirekt.
Wenn Chefs oder Hochbegabte denken: „Wer lobt mich denn? Wer hat denn Zeit für mich? Wer hat denn ein offenes Ohr für mich“, dann haben sie schon mal selbst empfunden, dass es eben wichtig ist. Dann fehlt ihnen was. Und das können sie – genau wie jeder andere – auch bei einem Coach kennen lernen. Oder, wie Du schreibst: Manchmal tut es auch das richtige Buch.

Der alte Knigge kann da gar nicht historisch genug sein – schon die Einleitung seines Werkes „Über den Umgang mit Menschen“ könnte ebenso gut nach dem Besuch einer Mensa-Veranstaltung wie nach einem Manager-Kongress entstanden sein: „Wir sehen die klügsten, verständigsten Menschen im gemeinen Leben Schritte tun, wozu wir den Kopf schütteln müssen. Wir sehen die feinsten theoretischen Menschenkenner das Opfer des gröbsten Betrugs werden. Wir sehen die erfahrensten, geschicktesten Männer bei alltäglichen Vorfällen unzweckmäßige Mittel wählen, sehen, dass es ihnen misslingt, auf andre zu wirken, dass sie, mit allem Übergewichte der Vernunft, dennoch oft von fremden Torheiten, Grillen und von dem Eigensinne der Schwächeren abhängen, dass sie von schiefen Köpfen, die nicht wert sind, ihre Schuhriemen aufzulösen, sich müssen regieren und misshandeln lassen, dass hingegen Schwächlinge und Unmündige an Geist Dinge durchsetzen, die der Weise kaum zu wünschen wagen darf. Wir sehen manchen Redlichen fast allgemein verkannt. Wir sehen die witzigsten, hellsten Köpfe in Gesellschaften, wo aller Augen auf sie gerichtet waren und jedermann begierig auf jedes Wort lauerte, das aus ihrem Munde kommen würde, eine nicht vorteilhafte Rolle spielen, sehen, wie sie verstummen oder lauter gemeine Dinge sagen, indes ein andrer äußerst leerer Mensch seine dreiundzwanzig Begriffe, die er hie und da aufgeschnappt hat, so durcheinander zu werfen und aufzustutzen versteht, dass er Aufmerksamkeit erregt und selbst bei Männern von Kenntnissen für etwas gilt.“ (4)



Lichtstreifen, quer zum Horizont! © bei Karin Rasmussen


Wie es scheint, wird dieses Thema seine Aktualität so schnell nicht verlieren. Bloß gut, dass es seit Knigge immer wieder Autoren gegeben hat, die neben streng logischen Wissenschaftlern, linientreuen Politikern und demagogischen Ideologen auch mit Witz und Humor darüber schreiben konnten. Danke, Danke für den Tipp „Manieren“ von Asfa-Wossen Asserate, eine köstliche Bereicherung! (5)

Wie Du, liebe Lilli, denke ich, dass Mut dazu gehört, sich selbst zu überwinden und der Wertschätzung einen größeren Raum zu gewähren. Und damit den inneren Frieden zu gewinnen, die Souveränität, über uns selbst hinauszuwachsen. Und vielleicht – wer weiss – selbst zur Legende zu werden. Ohne den Umweg über „Premierministerin“ oder „Kanzler“ gehen zu müssen. Laut Duden sind Legenden glorifizierende Erzählungen. Heißt das, dass Legenden nicht wahr sind, weil sie die „Fehlerseite“ vernachlässigen?

Ganz zufällig hatte ich in dieser Woche ein passendes Erlebnis, dieses Mal mit einem Akademiemitglied!  Prof. Volker Gerhardt vom Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin wurde in seiner Akademie-Vorlesung „Der Wert der Wahrheit wächst“ von einem jungen Ökonomen eine spannende Frage gestellt: Wächst der Wert der Wahrheit, weil die Nachfrage steigt oder wird das Angebot knapp?

Welche Antwort würdest Du geben? Die philosophische Antwort des Referenten war vorhersehbar mehrdeutig und lautete sinngemäß: Beides trifft unter bestimmten Bedingungen zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kreisen zu – es gibt mit zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis ein wachsendes Bedürfnis nach Wahrheit bei gleichzeitig steigenden Möglichkeiten, diese Wahrheit nach eigenen Maßstäben zu „gestalten“. Daraus ergibt sich eine erhöhte moralische Verantwortung im Umgang der Menschen miteinander. (6)
Klasse!

Prompt kam natürlich die Frage einer Naturwissenschaftlerin nach der Relativität der (wissenschaftlichen) Wahrheit, da ja unsere modernen Erkenntnisse schon viele früheren Wahrheiten als falsch offenbart haben und das auch so weitergehen wird. Wir irren immer zu einem gewissen Teil – auch wenn Mehrheiten glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein und damit Maßstäbe für die Allgemeinheit setzen zu dürfen.

Dennoch: Das Vorbild des bedeutenden Forschers, des besonders erfolgreichen Politikers oder herausragenden Künstlers schwebt immer mal wieder vor unserer inneren Stimme als Muster, als Aufforderung, nach Höherem zu streben, Besonderes zu vollbringen. Und dann sind wir unzufrieden mit uns selbst, wenn uns dies nicht zu gelingen scheint – besonders häufig trifft das scheinbar Menschen, die wissen, dass sie hochbegabt sind!

Dabei sind Heldentaten so oft ganz alltäglich und gerade deshalb so schätzenswert: Wie jetzt in der Hochwasserkatastrophe Tausende auf Schlaf und Vergnügen verzichten, um anderen zu helfen. Wie sie Zeit, Kraft und Geld selbstlos einsetzen, ohne Gewissheit zu haben, dass es sich lohnt. Wie manche sogar ihre Gesundheit riskieren ohne zu zögern, weil sie es für ihre moralische Pflicht halten, für andere da zu sein – das  ist legendär! Das wird vielleicht für zukünftige Generationen den Stoff liefern für neue legendäre Vorbilder, die sich ohne eigenen Vorteil für den ganz „normalen“ unbekannten Mitmenschen eingesetzt haben – und die ähnlich wie Lady Godiva in Büchern, Liedern und Bildern besungen werden . Hier sind sie dabei, wahr zu werden: Liebevolle Legenden. (7)


Die da unten sieht man doch! © bei Karin Rasmussen


Denn: Der Alltag der meisten Menschen ist stilles Heldentum. (8) Ich bin sehr froh darüber, dass uns unser Beruf immer wieder mit diesen ungenannten Helden zusammen führt, dass sie sich uns zeigen und wir sie überall entdecken können!

Ich umarme Dich,
Deine Karin

 Gallup-Studie aus dem Jahr 2012 zitiert in ZEIT ONLINE
5 Asfa-Wossen Asserate: Manieren, 
6 Akademie-Vorlesung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen der Reihe „Moral, Wissenschaft und Wahrheit“ am 06.06.13 http://www.bbaw.de/veranstaltungen/2013/Juni/wahrheit
8 Anna Magnani, zitiert nach: 1997: Harenberg Lexikon der Sprichwörter und Zitate, Ausgabe 3, ISBN 9783709302101, Seite 23 (Verlag Harenberg)