Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Sonntag, 9. Juni 2013

Diesmal über Moral, Wahrheit und Wissenschaft

Liebe Lilli,

herzlichen Dank Dir für Deine immer wieder schwungvollen Denk-Kreise! Sie zu lesen bereitet mir so viel Vergnügen, dass ich bei jeder neuen Runde (ich lese immer mehrmals, was Du mir schreibst) in Gedanken mit Dir spreche. 

Manchmal sind das abendfüllende Diskussionen. Und natürlich rede ich auch mit Freunden und Bekannten über unseren Austausch – es eröffnen sich immer wieder neue Horizonte! Und zwar genau durch das, was auch Dich so begeistert: das Andere. Nicht die Gleichheit der Gedanken macht es so interessant, sondern die Erweiterungen, Ausdeutungen, Assoziationen und – ja – auch die Widersprüche! Und manches, was im ersten Hören/Lesen irgendwie nicht „richtig“ erscheint, stellt sich als wertvolle Wahrheit heraus, genauso wie umgekehrt auch Wahrheiten widerlegt werden können.

Ich bin Dir sehr dankbar für Deine zwei Geschichten von Hochbegabten, die es moralisch ganz wichtig fanden, auch die Wahrheit über ihre Schwächen auszusprechen: Da ist die außergewöhnlich kluge, Nobel-Preis-verdächtige Physikerin, die mit ihren Haaren nichts anzufangen weiß (haha, ist das vielleicht ein Einstein-Paradoxon?) und dann Uwe, der wegen seiner sächsischen Muttersprache beinahe auf eine tolle Job-Chance verzichtet hätte.

Nun ja, auch ich kenne die Abwehr-Reaktion von Hochbegabten auf Lob: „Ich bin gar nicht so toll, ich habe auch Schwächen.“ Natürlich bin ich wie Du der Meinung, dass es möglich ist, wirklich kritisch und zugleich wertschätzend zu sein. Auch zu sich selbst! Aber was verbirgt sich denn hinter diesen einschränkenden, abwehrenden und abwertenden Wahrheiten? Ist es der Versuch, das „Ganze“ zu sehen, auch die zweite Seite der Medaille ins Kalkül zu ziehen, oder ist es eher dem Wunsch nach Gemeinschaft und Gleichheit geschuldet? Ist es das Bedürfnis, von anderen als normal, als Ihresgleichen akzeptiert zu werden, nobody is perfect? Oder soll damit gar den zu hohen Erwartungen der Anderen vorgebeugt werden, dass man ständig und in jeder Beziehung Großartiges zu leisten imstande wäre? Genügt man eher der Konvention, bescheiden aufzutreten? Wie moralisch sind solche Wahrheiten? Und wie nachhaltig?

Du erzählst ein Beispiel vom sächsischen Ingenieur, der lieber zu Hause bleiben wollte statt einem tollen Arbeitsangebot nach Süddeutschland zu folgen mit der Begründung: „Die können meine Sprache nicht verstehen.“

Als ich das las, fielen mir die zahlreichen unseligen „Witze“ ein, die über andere Kulturen einschließlich verschiedener Mundarten so kursieren. Es muss gar kein anderes Volk, keine andere Religion sein, wir finden ja bereits den Nachbarn komisch, der einen anderen Dialekt hat als wir – und schon geht das Lästern los. Dabei war Sächsisch mal eine (europäische) Weltsprache! Und wenn man heute in Afrika, Asien oder woanders in der weiten Welt einem sächsisch sprechenden Fachmann begegnet, dann ist man erfreut und stolz, dass er in Deutschland studiert hat? Da hat man plötzlich nichts mehr zu lästern? Nein, ganz besonders nicht, wenn man die Muttersprache dieses Fachmannes selber gar nicht beherrscht!

Du schreibst: „Gleichwohl gibt es doch hier und da gelungene Annäherungsversuche... Ich denke, wenn wir den Mut haben auf unsere innere Stimme zu hören, dann werden wir den richtigen Weg für uns finden. Und die innere Stimme ist ja bei Menschen mit Hochbegabung besonders gut ausgeprägt. Hochsensibel und feinsinnig wie sie halt sind. Wertschätzung tut gut.“

Allerdings, liebe Lilli: Bei mir ist die innere Stimme oftmals ein übender Chor! Es sind viele Stimmen und sie sind nicht auf Anhieb harmonisch. Geht es Dir auch manchmal so? Da kommen Gedanken und Gefühle, die irgendwie nicht so ganz zueinander passen wollen. Exoten sozusagen: Kratzig schön manchmal, ungewohnt, fremd.



Fremd und kratzig schön! © bei Karin Rasmussen


Eben: Ungewohnt, fremd, aber nicht falsch und auch nicht gleich böse! Das ist wahrscheinlich das Wichtigste, was ich im Lauf meines Lebens gelernt habe. Nicht immer ist sofort klar, was das Beste, was das Richtige oder das Gute ist. Und meist gehören Widersprüche zur Normalität. Auch Probleme zu haben, ist kein Fehler, den man sofort berichtigen muss. Im Gegenteil - so wie ein Chor bei nur einer Probe keine wahre Meisterschaft erringen kann, sondern erst nach einem intensiven Lern- und Abstimmungsprozess die erwünschte Harmonie  erreicht, braucht auch die innere Stimme manchmal mehrere Versuche für eine akzeptable Lösung. Bei Hochbegabten kann das sogar noch etwas länger dauern, denn die Vielzahl der Argumente und Gefühle kann durchaus ein beträchtliches inneres „Stimmengewirr“ erzeugen.

Und dann bin ich immer sehr froh, wenn sich ein geduldiger und wertschätzender Gesprächspartner findet. Jemand, der/die nicht mit dem wohlfeilen Rat kommt „Du musst doch wissen, was Du willst!“ oder gar eine/r, der/die mir sagt „also ICH an Deiner Stelle würde…“

Sondern ein Mensch mit gesundem Selbstbewusstsein, der offen sein kann für Ungewohntes. Und der mir dadurch hilft, mich selbst besser zu verstehen. Und mich danach wieder zurecht zu finden und einzuordnen in das Gemeinsame, das Ganze. Also jemand, der nicht aus meiner Fremdheit oder meinem Anders-Sein gleich einen Fehler machen muss, um sich dadurch selber gut zu fühlen. Und der auch nicht erwartet, nur Bekanntes von mir zu hören.
Da ich keinen Chef habe, muss ich mir diese Offenheit auch nicht von einem Vorgesetzten für mich wünschen. Aber ich wünsche sie mir immer für meine Coachees! Ich wünsche ihnen Manager/innen, von denen sie „ernst gemeintes positives Feedback, möglichst zeitnah und nachvollziehbar bekommen. Die Ausgrenzungen und Lästereien verhindern und offen sind für Verbesserungsvorschläge.“ (1)  Diese Hoffnung haben nämlich die meisten. Sie vertrauen ihren Vorgesetzten so lange, bis sie enttäuscht werden. Und dann ist es oft unsere Aufgabe als Coach, das verloren gegangene Selbstvertrauen wieder herzustellen, die Selbstachtung zu unterstützen und zu ermutigen – kurz: Die vorhandenen Ressourcen und Potenziale wirksam zu machen, indem wir ihnen die gebührende Wertschätzung erweisen. Mögen sie auch noch so ungewohnt und fremd erscheinen. Vielleicht steckt ja in einer exotischen Idee der Keim für ungeahnten Fortschritt?


Es wird… was? © bei Karin Rasmussen


Möglicherweise verbirgt sich da ein Nutzen für die ganze Menschheit? Es soll auch schon Erfindungen gegeben haben, die nicht von Nobelpreisträgern kamen! (Bitte verzeih die Ironie, ich denke gerade an die Sicherheitsnadel, aber das ist nur ein Beispiel). (2)

Aber selbst wenn es nicht gleich um revolutionär Neues oder besonders Schönes geht – oft kann einfaches wertschätzendes Zuhören und Akzeptieren schon den von Dir aus der Gallup-Studie von 2012 erwähnten Schaden verhindern! (3)

In meinen Seminaren kann ich immer wieder feststellen, dass es auch Führungskräfte gibt, die anerkennen wollen, aber nicht wissen, was und wie. Warum fragen die nicht danach einen Coach? Wir sind ja eher nicht zur „Fehlerbehebung“ da, sondern unsere Aufgabe ist es, die vorhandenen Ressourcen und Potenziale wirksamer zu machen! Das geht auch indirekt.
Wenn Chefs oder Hochbegabte denken: „Wer lobt mich denn? Wer hat denn Zeit für mich? Wer hat denn ein offenes Ohr für mich“, dann haben sie schon mal selbst empfunden, dass es eben wichtig ist. Dann fehlt ihnen was. Und das können sie – genau wie jeder andere – auch bei einem Coach kennen lernen. Oder, wie Du schreibst: Manchmal tut es auch das richtige Buch.

Der alte Knigge kann da gar nicht historisch genug sein – schon die Einleitung seines Werkes „Über den Umgang mit Menschen“ könnte ebenso gut nach dem Besuch einer Mensa-Veranstaltung wie nach einem Manager-Kongress entstanden sein: „Wir sehen die klügsten, verständigsten Menschen im gemeinen Leben Schritte tun, wozu wir den Kopf schütteln müssen. Wir sehen die feinsten theoretischen Menschenkenner das Opfer des gröbsten Betrugs werden. Wir sehen die erfahrensten, geschicktesten Männer bei alltäglichen Vorfällen unzweckmäßige Mittel wählen, sehen, dass es ihnen misslingt, auf andre zu wirken, dass sie, mit allem Übergewichte der Vernunft, dennoch oft von fremden Torheiten, Grillen und von dem Eigensinne der Schwächeren abhängen, dass sie von schiefen Köpfen, die nicht wert sind, ihre Schuhriemen aufzulösen, sich müssen regieren und misshandeln lassen, dass hingegen Schwächlinge und Unmündige an Geist Dinge durchsetzen, die der Weise kaum zu wünschen wagen darf. Wir sehen manchen Redlichen fast allgemein verkannt. Wir sehen die witzigsten, hellsten Köpfe in Gesellschaften, wo aller Augen auf sie gerichtet waren und jedermann begierig auf jedes Wort lauerte, das aus ihrem Munde kommen würde, eine nicht vorteilhafte Rolle spielen, sehen, wie sie verstummen oder lauter gemeine Dinge sagen, indes ein andrer äußerst leerer Mensch seine dreiundzwanzig Begriffe, die er hie und da aufgeschnappt hat, so durcheinander zu werfen und aufzustutzen versteht, dass er Aufmerksamkeit erregt und selbst bei Männern von Kenntnissen für etwas gilt.“ (4)



Lichtstreifen, quer zum Horizont! © bei Karin Rasmussen


Wie es scheint, wird dieses Thema seine Aktualität so schnell nicht verlieren. Bloß gut, dass es seit Knigge immer wieder Autoren gegeben hat, die neben streng logischen Wissenschaftlern, linientreuen Politikern und demagogischen Ideologen auch mit Witz und Humor darüber schreiben konnten. Danke, Danke für den Tipp „Manieren“ von Asfa-Wossen Asserate, eine köstliche Bereicherung! (5)

Wie Du, liebe Lilli, denke ich, dass Mut dazu gehört, sich selbst zu überwinden und der Wertschätzung einen größeren Raum zu gewähren. Und damit den inneren Frieden zu gewinnen, die Souveränität, über uns selbst hinauszuwachsen. Und vielleicht – wer weiss – selbst zur Legende zu werden. Ohne den Umweg über „Premierministerin“ oder „Kanzler“ gehen zu müssen. Laut Duden sind Legenden glorifizierende Erzählungen. Heißt das, dass Legenden nicht wahr sind, weil sie die „Fehlerseite“ vernachlässigen?

Ganz zufällig hatte ich in dieser Woche ein passendes Erlebnis, dieses Mal mit einem Akademiemitglied!  Prof. Volker Gerhardt vom Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin wurde in seiner Akademie-Vorlesung „Der Wert der Wahrheit wächst“ von einem jungen Ökonomen eine spannende Frage gestellt: Wächst der Wert der Wahrheit, weil die Nachfrage steigt oder wird das Angebot knapp?

Welche Antwort würdest Du geben? Die philosophische Antwort des Referenten war vorhersehbar mehrdeutig und lautete sinngemäß: Beides trifft unter bestimmten Bedingungen zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kreisen zu – es gibt mit zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis ein wachsendes Bedürfnis nach Wahrheit bei gleichzeitig steigenden Möglichkeiten, diese Wahrheit nach eigenen Maßstäben zu „gestalten“. Daraus ergibt sich eine erhöhte moralische Verantwortung im Umgang der Menschen miteinander. (6)
Klasse!

Prompt kam natürlich die Frage einer Naturwissenschaftlerin nach der Relativität der (wissenschaftlichen) Wahrheit, da ja unsere modernen Erkenntnisse schon viele früheren Wahrheiten als falsch offenbart haben und das auch so weitergehen wird. Wir irren immer zu einem gewissen Teil – auch wenn Mehrheiten glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein und damit Maßstäbe für die Allgemeinheit setzen zu dürfen.

Dennoch: Das Vorbild des bedeutenden Forschers, des besonders erfolgreichen Politikers oder herausragenden Künstlers schwebt immer mal wieder vor unserer inneren Stimme als Muster, als Aufforderung, nach Höherem zu streben, Besonderes zu vollbringen. Und dann sind wir unzufrieden mit uns selbst, wenn uns dies nicht zu gelingen scheint – besonders häufig trifft das scheinbar Menschen, die wissen, dass sie hochbegabt sind!

Dabei sind Heldentaten so oft ganz alltäglich und gerade deshalb so schätzenswert: Wie jetzt in der Hochwasserkatastrophe Tausende auf Schlaf und Vergnügen verzichten, um anderen zu helfen. Wie sie Zeit, Kraft und Geld selbstlos einsetzen, ohne Gewissheit zu haben, dass es sich lohnt. Wie manche sogar ihre Gesundheit riskieren ohne zu zögern, weil sie es für ihre moralische Pflicht halten, für andere da zu sein – das  ist legendär! Das wird vielleicht für zukünftige Generationen den Stoff liefern für neue legendäre Vorbilder, die sich ohne eigenen Vorteil für den ganz „normalen“ unbekannten Mitmenschen eingesetzt haben – und die ähnlich wie Lady Godiva in Büchern, Liedern und Bildern besungen werden . Hier sind sie dabei, wahr zu werden: Liebevolle Legenden. (7)


Die da unten sieht man doch! © bei Karin Rasmussen


Denn: Der Alltag der meisten Menschen ist stilles Heldentum. (8) Ich bin sehr froh darüber, dass uns unser Beruf immer wieder mit diesen ungenannten Helden zusammen führt, dass sie sich uns zeigen und wir sie überall entdecken können!

Ich umarme Dich,
Deine Karin

 Gallup-Studie aus dem Jahr 2012 zitiert in ZEIT ONLINE
5 Asfa-Wossen Asserate: Manieren, 
6 Akademie-Vorlesung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen der Reihe „Moral, Wissenschaft und Wahrheit“ am 06.06.13 http://www.bbaw.de/veranstaltungen/2013/Juni/wahrheit
8 Anna Magnani, zitiert nach: 1997: Harenberg Lexikon der Sprichwörter und Zitate, Ausgabe 3, ISBN 9783709302101, Seite 23 (Verlag Harenberg)