Liebe Lilli,
herzlichen Dank
Dir für Deine immer wieder schwungvollen Denk-Kreise! Sie zu lesen bereitet mir
so viel Vergnügen, dass ich bei jeder neuen Runde (ich lese immer mehrmals, was
Du mir schreibst) in Gedanken mit Dir spreche.
Manchmal sind das abendfüllende
Diskussionen. Und natürlich rede ich auch mit Freunden und Bekannten über
unseren Austausch – es eröffnen sich immer wieder neue Horizonte! Und zwar
genau durch das, was auch Dich so begeistert: das Andere. Nicht die Gleichheit
der Gedanken macht es so interessant, sondern die Erweiterungen, Ausdeutungen,
Assoziationen und – ja – auch die Widersprüche! Und manches, was im ersten
Hören/Lesen irgendwie nicht „richtig“ erscheint, stellt sich als wertvolle
Wahrheit heraus, genauso wie umgekehrt auch Wahrheiten widerlegt werden können.
Ich bin Dir sehr
dankbar für Deine zwei Geschichten von Hochbegabten, die es moralisch ganz
wichtig fanden, auch die Wahrheit über ihre Schwächen auszusprechen: Da ist die
außergewöhnlich kluge, Nobel-Preis-verdächtige Physikerin, die mit ihren Haaren
nichts anzufangen weiß (haha, ist das vielleicht ein Einstein-Paradoxon?) und
dann Uwe, der wegen seiner sächsischen Muttersprache beinahe auf eine tolle
Job-Chance verzichtet hätte.
Nun ja, auch ich
kenne die Abwehr-Reaktion von Hochbegabten auf Lob: „Ich bin gar nicht so toll,
ich habe auch Schwächen.“ Natürlich bin ich wie Du der Meinung, dass es möglich ist,
wirklich kritisch und zugleich wertschätzend zu sein. Auch zu sich selbst! Aber
was verbirgt sich denn hinter diesen einschränkenden, abwehrenden und
abwertenden Wahrheiten? Ist es der Versuch, das „Ganze“ zu sehen, auch die
zweite Seite der Medaille ins Kalkül zu ziehen, oder ist es eher dem Wunsch
nach Gemeinschaft und Gleichheit geschuldet? Ist es das Bedürfnis, von anderen
als normal, als Ihresgleichen akzeptiert zu werden, nobody is perfect? Oder
soll damit gar den zu hohen Erwartungen der Anderen vorgebeugt werden, dass man
ständig und in jeder Beziehung Großartiges zu leisten imstande wäre? Genügt man
eher der Konvention, bescheiden aufzutreten? Wie moralisch sind solche
Wahrheiten? Und wie nachhaltig?
Du erzählst ein Beispiel vom
sächsischen Ingenieur, der lieber zu Hause bleiben wollte statt einem tollen
Arbeitsangebot nach Süddeutschland zu folgen mit der Begründung: „Die können
meine Sprache nicht verstehen.“
Als ich das las, fielen mir
die zahlreichen unseligen „Witze“ ein, die über andere Kulturen einschließlich
verschiedener Mundarten so kursieren. Es muss gar kein anderes Volk, keine
andere Religion sein, wir finden ja bereits den Nachbarn komisch, der einen
anderen Dialekt hat als wir – und schon geht das Lästern los. Dabei war
Sächsisch mal eine (europäische) Weltsprache! Und wenn man heute in Afrika,
Asien oder woanders in der weiten Welt einem sächsisch sprechenden Fachmann
begegnet, dann ist man erfreut und stolz, dass er in Deutschland studiert hat?
Da hat man plötzlich nichts mehr zu lästern? Nein, ganz besonders nicht, wenn
man die Muttersprache dieses Fachmannes selber gar nicht beherrscht!
Du schreibst: „Gleichwohl
gibt es doch hier und da gelungene Annäherungsversuche... Ich denke, wenn
wir den Mut haben auf unsere innere Stimme zu hören, dann werden wir den
richtigen Weg für uns finden. Und die innere Stimme ist ja bei Menschen mit
Hochbegabung besonders gut ausgeprägt. Hochsensibel und feinsinnig wie sie halt
sind. Wertschätzung tut gut.“
Allerdings, liebe Lilli: Bei mir ist die innere Stimme oftmals ein
übender Chor! Es sind viele Stimmen und sie sind nicht auf Anhieb harmonisch.
Geht es Dir auch manchmal so? Da kommen Gedanken und Gefühle, die irgendwie
nicht so ganz zueinander passen wollen. Exoten sozusagen: Kratzig schön
manchmal, ungewohnt, fremd.
Fremd und kratzig
schön! © bei Karin Rasmussen
Eben:
Ungewohnt, fremd, aber nicht falsch und auch nicht gleich böse! Das ist
wahrscheinlich das Wichtigste, was ich im Lauf meines Lebens gelernt habe. Nicht
immer ist sofort klar, was das Beste, was das Richtige oder das Gute ist. Und
meist gehören Widersprüche zur Normalität. Auch Probleme zu haben, ist kein
Fehler, den man sofort berichtigen muss. Im Gegenteil - so wie ein Chor bei nur
einer Probe keine wahre Meisterschaft erringen kann, sondern erst nach einem
intensiven Lern- und Abstimmungsprozess die erwünschte Harmonie erreicht, braucht auch die innere Stimme
manchmal mehrere Versuche für eine akzeptable Lösung. Bei Hochbegabten kann das
sogar noch etwas länger dauern, denn die Vielzahl der Argumente und Gefühle
kann durchaus ein beträchtliches inneres „Stimmengewirr“ erzeugen.
Und dann bin
ich immer sehr froh, wenn sich ein geduldiger und wertschätzender
Gesprächspartner findet. Jemand, der/die nicht mit dem wohlfeilen Rat kommt „Du
musst doch wissen, was Du willst!“ oder gar eine/r, der/die mir sagt „also ICH
an Deiner Stelle würde…“
Sondern ein
Mensch mit gesundem Selbstbewusstsein, der offen sein kann für Ungewohntes. Und
der mir dadurch hilft, mich selbst besser zu verstehen. Und mich danach wieder
zurecht zu finden und einzuordnen in das Gemeinsame, das Ganze. Also jemand,
der nicht aus meiner Fremdheit oder meinem Anders-Sein gleich einen Fehler
machen muss, um sich dadurch selber gut zu fühlen. Und der auch nicht erwartet,
nur Bekanntes von mir zu hören.
Da ich keinen
Chef habe, muss ich mir diese Offenheit auch nicht von einem Vorgesetzten für
mich wünschen. Aber ich wünsche sie mir immer für meine Coachees! Ich wünsche
ihnen Manager/innen, von denen sie „ernst gemeintes positives Feedback,
möglichst zeitnah und nachvollziehbar bekommen. Die Ausgrenzungen und
Lästereien verhindern und offen sind für Verbesserungsvorschläge.“ (1) Diese Hoffnung haben nämlich die meisten. Sie
vertrauen ihren Vorgesetzten so lange, bis sie enttäuscht werden. Und dann ist
es oft unsere Aufgabe als Coach, das verloren gegangene Selbstvertrauen wieder
herzustellen, die Selbstachtung zu unterstützen und zu ermutigen – kurz: Die
vorhandenen Ressourcen und Potenziale wirksam zu machen, indem wir ihnen die
gebührende Wertschätzung erweisen. Mögen sie auch noch so ungewohnt und fremd
erscheinen. Vielleicht steckt ja in einer exotischen Idee der Keim für
ungeahnten Fortschritt?
Es wird… was? ©
bei Karin Rasmussen
Möglicherweise
verbirgt sich da ein Nutzen für die ganze Menschheit? Es soll auch schon
Erfindungen gegeben haben, die nicht von Nobelpreisträgern kamen! (Bitte verzeih
die Ironie, ich denke gerade an die Sicherheitsnadel, aber das ist nur ein
Beispiel). (2)
Aber selbst wenn es nicht gleich um revolutionär Neues oder besonders
Schönes geht – oft kann einfaches wertschätzendes Zuhören und Akzeptieren schon
den von Dir aus der Gallup-Studie von 2012 erwähnten Schaden verhindern! (3)
In meinen Seminaren kann ich immer wieder feststellen, dass es auch Führungskräfte
gibt, die anerkennen wollen, aber nicht wissen, was und wie. Warum fragen die
nicht danach einen Coach? Wir sind ja eher nicht zur „Fehlerbehebung“ da,
sondern unsere
Aufgabe ist es, die vorhandenen Ressourcen und Potenziale wirksamer zu machen!
Das geht auch indirekt.
Wenn Chefs oder Hochbegabte denken: „Wer lobt mich denn? Wer hat denn
Zeit für mich? Wer hat denn ein offenes Ohr für mich“, dann haben sie schon mal
selbst empfunden, dass es eben wichtig ist. Dann fehlt ihnen was. Und das
können sie – genau wie jeder andere – auch bei einem Coach kennen lernen. Oder,
wie Du schreibst: Manchmal tut es auch das richtige Buch.
Der alte Knigge kann da gar nicht historisch genug sein – schon die
Einleitung seines Werkes „Über den Umgang mit Menschen“ könnte ebenso gut nach
dem Besuch einer Mensa-Veranstaltung wie nach einem Manager-Kongress entstanden
sein: „Wir sehen die klügsten, verständigsten Menschen im gemeinen Leben
Schritte tun, wozu wir den Kopf schütteln müssen. Wir sehen die feinsten
theoretischen Menschenkenner das Opfer des gröbsten Betrugs werden. Wir sehen
die erfahrensten, geschicktesten Männer bei alltäglichen Vorfällen
unzweckmäßige Mittel wählen, sehen, dass es ihnen misslingt, auf andre zu
wirken, dass sie, mit allem Übergewichte der Vernunft, dennoch oft von fremden
Torheiten, Grillen und von dem Eigensinne der Schwächeren abhängen, dass sie
von schiefen Köpfen, die nicht wert sind, ihre Schuhriemen aufzulösen, sich
müssen regieren und misshandeln lassen, dass hingegen Schwächlinge und
Unmündige an Geist Dinge durchsetzen, die der Weise kaum zu wünschen wagen
darf. Wir sehen manchen Redlichen fast allgemein verkannt. Wir sehen die
witzigsten, hellsten Köpfe in Gesellschaften, wo aller Augen auf sie gerichtet
waren und jedermann begierig auf jedes Wort lauerte, das aus ihrem Munde kommen
würde, eine nicht vorteilhafte Rolle spielen, sehen, wie sie verstummen oder
lauter gemeine Dinge sagen, indes ein andrer äußerst leerer Mensch seine
dreiundzwanzig Begriffe, die er hie und da aufgeschnappt hat, so durcheinander
zu werfen und aufzustutzen versteht, dass er Aufmerksamkeit erregt und selbst
bei Männern von Kenntnissen für etwas gilt.“ (4)
Lichtstreifen, quer zum Horizont! © bei Karin Rasmussen
Wie es scheint,
wird dieses Thema seine Aktualität so schnell nicht verlieren. Bloß gut, dass
es seit Knigge immer wieder Autoren gegeben hat, die neben streng logischen
Wissenschaftlern, linientreuen Politikern und demagogischen Ideologen auch mit
Witz und Humor darüber schreiben konnten. Danke, Danke für den Tipp „Manieren“
von Asfa-Wossen Asserate, eine köstliche Bereicherung! (5)
Wie Du, liebe
Lilli, denke ich, dass Mut dazu gehört, sich selbst zu überwinden und der
Wertschätzung einen größeren Raum zu gewähren. Und damit den inneren Frieden zu
gewinnen, die Souveränität, über uns selbst hinauszuwachsen. Und vielleicht –
wer weiss – selbst zur Legende zu werden. Ohne den Umweg über
„Premierministerin“ oder „Kanzler“ gehen zu müssen. Laut Duden sind Legenden glorifizierende Erzählungen. Heißt das, dass
Legenden nicht wahr sind, weil sie die „Fehlerseite“ vernachlässigen?
Ganz zufällig hatte ich in dieser Woche ein passendes
Erlebnis, dieses Mal mit einem Akademiemitglied! Prof. Volker Gerhardt vom Institut für
Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin wurde in seiner Akademie-Vorlesung
„Der Wert der Wahrheit wächst“ von einem jungen Ökonomen eine spannende Frage
gestellt: Wächst der Wert der Wahrheit, weil die Nachfrage steigt oder wird das
Angebot knapp?
Welche Antwort würdest Du geben? Die philosophische Antwort
des Referenten war vorhersehbar mehrdeutig und lautete sinngemäß: Beides trifft
unter bestimmten Bedingungen zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kreisen zu – es
gibt mit zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis ein wachsendes Bedürfnis
nach Wahrheit bei gleichzeitig steigenden Möglichkeiten, diese Wahrheit nach
eigenen Maßstäben zu „gestalten“. Daraus ergibt sich eine erhöhte moralische
Verantwortung im Umgang der Menschen miteinander. (6)
Klasse!
Prompt kam natürlich die Frage einer Naturwissenschaftlerin
nach der Relativität der (wissenschaftlichen) Wahrheit, da ja unsere modernen
Erkenntnisse schon viele früheren Wahrheiten als falsch offenbart haben und das
auch so weitergehen wird. Wir irren immer zu einem gewissen Teil – auch wenn
Mehrheiten glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein und damit Maßstäbe für die
Allgemeinheit setzen zu dürfen.
Dennoch: Das Vorbild des bedeutenden Forschers, des
besonders erfolgreichen Politikers oder herausragenden Künstlers schwebt immer
mal wieder vor unserer inneren Stimme als Muster, als Aufforderung, nach
Höherem zu streben, Besonderes zu vollbringen. Und dann sind wir unzufrieden
mit uns selbst, wenn uns dies nicht zu gelingen scheint – besonders häufig
trifft das scheinbar Menschen, die wissen, dass sie hochbegabt sind!
Dabei sind Heldentaten so oft ganz alltäglich und gerade deshalb so
schätzenswert: Wie jetzt in der Hochwasserkatastrophe Tausende auf Schlaf und
Vergnügen verzichten, um anderen zu helfen. Wie sie Zeit, Kraft und Geld
selbstlos einsetzen, ohne Gewissheit zu haben, dass es sich lohnt. Wie manche
sogar ihre Gesundheit riskieren ohne zu zögern, weil sie es für ihre moralische
Pflicht halten, für andere da zu sein – das
ist legendär! Das wird vielleicht für zukünftige Generationen den Stoff
liefern für neue legendäre Vorbilder, die sich ohne eigenen Vorteil für den
ganz „normalen“ unbekannten Mitmenschen eingesetzt haben – und die ähnlich wie
Lady Godiva in Büchern, Liedern und Bildern besungen werden . Hier sind sie
dabei, wahr zu werden: Liebevolle
Legenden. (7)
Die da unten sieht man doch! © bei Karin Rasmussen
Denn: Der Alltag
der meisten Menschen ist stilles Heldentum. (8) Ich bin sehr froh darüber, dass
uns unser Beruf immer wieder mit diesen ungenannten Helden zusammen führt, dass
sie sich uns zeigen und wir sie überall entdecken können!
Ich umarme Dich,
Deine Karin
Gallup-Studie aus dem
Jahr 2012 zitiert in ZEIT ONLINE
4 Zitiert nach: http://gutenberg.spiegel.de/buch/3524/3
5 Asfa-Wossen Asserate: Manieren,
6 Akademie-Vorlesung der Berlin-Brandenburgischen Akademie
der Wissenschaften im Rahmen der Reihe „Moral, Wissenschaft und Wahrheit“ am
06.06.13 http://www.bbaw.de/veranstaltungen/2013/Juni/wahrheit
8 Anna Magnani, zitiert nach: 1997: Harenberg Lexikon der
Sprichwörter und Zitate, Ausgabe 3, ISBN 9783709302101, Seite 23 (Verlag
Harenberg)