Liebe Lilli,
herzlichen Dank für Deinen Brief! Es ist
wirklich toll, wie viele Übereinstimmungen und gleichzeitig erweiternde,
anregende Gedanken sich aus unserem Briefwechsel immer wieder ergeben.
Du
greifst gleich in Deinen ersten Sätzen diese Formulierung auf „…eine von uns,
mit dem gleichen Schicksal wie alle Menschen“…, die der Bischof von London, Richard Chartres, bei der Trauerfeier für Margaret Thatcher
sagte. (1) Und sofort ziehst Du – wie ich auch – dieses ‚gleiche Schicksal wie
alle Menschen‘ in Zweifel.
Aber genau hier ist ja Zweifel scheinbar
überflüssig: Das Einzige, was wirklich bei allen Menschen gleich ist, ist das
Schicksal des Geborenwerdens und in der Folge Sterbenmüssens. Niemand ist davon
ausgenommen. Nur in dem, was dazwischen liegt, unterscheiden sich Schicksale.
Und in diesen Unterschieden liegt dann wohl auch die wahre Bedeutung des
Einzelnen für alle anderen: Hat das Schicksal jemanden auf einen besonderen
Posten gestellt, in eine besondere Zeit hineingeboren oder an einen besonderen
Ort geführt, so scheint uns dieser Mensch besonders. Und wir führen dieses
Besondere auf ihn selbst zurück: Die Queen kommt zur Beerdigung, weil diese
Person gestorben ist? Wenn auf diesem Posten eine andere Person gelandet wäre,
wäre die Queen dann auch zur Trauerfeier erschienen?
Und dann die Dichter: Ohne sie wüssten wir
wahrscheinlich weniger, in jedem Falle aber Anderes über die Geschichte der
Menschheit! Gedichtete Legenden liefern uns Heldenvorstellungen von Menschen,
die einfach nicht „eine/r von uns“ gewesen sein können – zu außergewöhnlich
sind ihre Taten, ihre Schicksale, ihre Bedeutung für den Rest der Welt! Bei
mancher Gestalt ist zumindest zweifelhaft, ob sie jemals historisch real war –
als Legende liefert sie uns einen Maßstab für „Größe“.
Ich erinnere mich, dass ich im
Geschichtsunterricht in der Schule immer große Probleme hatte, mir die Erbfolge
in Dynastien, die Namen geschichtsentscheidender Feldherren und die
Jahreszahlen staatenvernichtender Kriege zu merken. Für mich hatten diese
Fakten immer nur eine, Schicksal bildende Bedeutung: Die Figuren bewegen sich
gegeneinander, die Auseinandersetzung führt im Ergebnis zu veränderten
Dominanz-/Machtstrukturen und die Verluste sind in der Summe immer größer als
die Gewinne. Dabei beeinflussen Wenige das Schicksal Vieler. Denn nicht nur die
Kontrahenten sind betroffen, sondern ganze Völker, Bevölkerungsgruppen oder
Regionen werden hineingezogen in Auseinandersetzungen, die sie nicht wollen.
Und die sie nicht verstehen. Die für sie undurchschaubar bleiben. Aber die sie
sich mit Hilfe von Dichtern oder Ideologen „zurecht“-erklären. Denn irgendwie
muss ja die eine Seite gut und die andere böse sein. Und selbstverständlich
möchte man gern selbst auf der Seite der „Guten“ stehen. Also muss doch ein
funktionierendes Feindbild gefunden werden. Auch wenn man dafür dichten muss:
Eine Niederlage ist nur erträglich, wenn der Sieger „übermächtig“ war, ein Sieg
nur gerechtfertigt, wenn er der „Guten Sache“ diente.
Spielt uns unser Bewusstsein ständig diesen
Streich, zugunsten einer annehmbaren Bewertung von Ereignissen oder Personen
die Tatsachen zu „filtern“? Uns die Fakten so sehen zu lassen, dass sie uns
passen? Und dass uns alle Menschen, bei denen wir diesen Filter- Aufwand nicht
treiben (müssen) als „ganz normale“ Menschen erscheinen?
Wunderbar, Dein Zitat: „Es ist nicht leicht, unter einem solchen Reichskanzler Kaiser zu sein.“ (2) Klar ist das nicht leicht! Aber wieso ist
das was Besonderes? Wer hat es schon leicht? Und wer hat Anspruch darauf, es
leicht zu haben?
Ich glaube, wir Menschen neigen dazu, es uns
leicht zu machen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Wir machen es uns sehr einfach,
wenn wir aus einem anderen Menschen etwas Besonderes machen. Das erspart es uns
nämlich, den anderen wirklich zu sehen. Ihn mit all seiner Widersprüchlichkeit
wahrzunehmen. Und es erspart uns auch, uns mit unserem eigenen Anteil am Wesen
des anderen auseinander zu setzen. Ein Kaiser, der darüber klagt, UNTER einem
Kanzler kaisern zu müssen! Das verstehe wer will. Nun, ich will:
Entgegen der mystifizierten
Kaiser-Vorstellung und ähnlicher Pauschalbilder von „denen da oben“ hat keine
einzige menschliche Person tatsächlich die absolute Macht. Es gibt immer
begünstigende Umstände und Helfer. Schon das Zulassen von Selbstherrlichkeit
ist ja Unterstützung. Selbst das Beeindruckt-Sein gibt dem anderen schon einen
Status, den er/sie sich selbst vielleicht gar nicht zuschreiben würde. Genau
genommen reagieren wir doch damit nicht auf den realen Anderen, sondern nur auf
unsere Vorstellung von ihm. Auf das Bild, das wir selbst uns von ihm machen.
Und Kaiser Wilhelm I. hatte von Bismarck ganz bestimmt die Vorstellung, dass
dieser in seinem Kanzleramt überwiegend nützlich sei. Dass er schon wissen
werde, was richtig ist. Und dass er schließlich zuständig sei, „dem Kaiser und
dem Vaterland zu dienen“ - was immer das
auch heißen mochte. Da war es doch für Bismarck wiederum auch einfach, seine
persönlichen Zweifel mit dem Glauben an höhere Werte zu überwinden: „Das habe
ich mit Gott abgemacht“ heißt dann ja wohl auch „hier haben Menschen nichts
mehr zu sagen“? Nicht mal der Kaiser? Ist somit der Kaiser, der eben doch noch
sein mächtiger Dienstherr war, endlich mal als bedeutungslos enttarnt?
Mitnichten! Nur als beeinflussbar, umgehbar, in bestimmten Fragen durch
Umstände bezwingbar – wie JEDER NORMALE MENSCH. Und auf diese Einsicht folgt
dann Resignation.
FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN
Der Ausspruch der alten Römer „memento mori…“
(3), der gerade im Augenblick größten Triumphes an das menschlich-Kleine des
Einzelnen erinnern sollte, kann vielleicht auch anders gedeutet werden?
Bedeutet er nicht im Umkehrschluss auch: Du bist nicht größer als andere, also
ist niemand kleiner als Du? Meint er nicht im tiefsten Sinne: Alle Menschen
sind wertvoll, müssen wertgeschätzt werden? Brauchen wir also den
Größen-Vergleich gar nicht?
Oder sind die Legenden und Heldengeschichten
einfach nur Mittel zum Zweck? Dienen sie dem Machterhalt, der Unterdrückung und
Demütigung der ganz normalen Menschen – du gehörst zu den Kleinen, halte still,
bleibe bescheiden, stelle keine Ansprüche, habe keine Meinung!!! Erwarte
nichts, sei dankbar für alles und lass die Großen machen! Wenn ja, wie lange wird die Menschheit dann
solche Heldengeschichten noch brauchen? Wann werden wir in der Lage sein, für
uns selbst genügend Ehrlichkeit aufzubringen und zu durchschauen, dass wir
unser Bild vom Anderen selber machen? Dass der Andere nicht so IST, wie wir ihn
sehen, sondern dass uns unsere eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Emotionen ein Bild
von ihm liefern. Und dass im Gegenzug der Andere sich von uns ein Bild macht,
was wahrscheinlich sehr von unserem eigenen Selbstbild abweicht. Egal, ob wir
selbst uns unter- oder überschätzen: Der Andere hat dazu seine eigenen Meinung.
Und dementsprechend geht er/sie mit uns um! Wie oft sind die „Großen“ überhöht
gesehen und dargestellt worden? Und was war Ursache, was Wirkung: Wird klein,
wen andere als klein behandeln und groß, wer groß gesehen wird? Glaubten die
Herrscher „von Gottes Gnaden“ sich so allmächtig, weil man es ihnen von
Kindheit an sagte – oder waren sie so mächtig, weil sie es glaubten? Wenn wir erst mal so weit gekommen sind, dass
wir unsere eigene Haltung zu uns selbst genauso wie die Haltung zu Helden und
Vorbildern hinterfragen, dann werden wir sicher auch toleranter. Ich hoffe es
sehr. Und ich bin überzeugt, dass es gelingen kann. Denn ich erlebe es immer
mal wieder- noch nicht dauerhaft und nicht in jedem Umfeld, aber ermutigend
häufig.
Erst vor Kurzem nämlich, auf dem
Mensa-Jahrestreffen in Münster, hatte ich wieder ein paar Tage dieses Erlebnis
von allgemeiner und gleichzeitig respektvoller Interessiertheit am Anderen. Und
das obwohl die Unterschiede der Schicksale, der Leistungen und der Positionen
größer fast nicht sein könnten. Aber genau diese Unterschiede machten die
Begegnungen ja so spannend. In gewissem Sinne wurde hier einfach vorausgesetzt,
dass jeder, der dabei war, auch „eine/r von uns“ war. Natürlich war das nur
eine Annahme, denn es waren auch Gäste dabei, die ihren IQ gar nicht kannten
(also auch „normale“ Menschen).
FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN
Dennoch gab und gibt es bei uns auch
außerhalb des Vereins keinen Wettbewerb und keine Konkurrenz darum, wer
„größer“ respektive intelligenter ist, wer mehr Bedeutung für die Menschheit
oder die eindrucksvollere Position hat,
wessen Schicksal besonderer ist. Natürlich gibt es unter uns auch Egozentriker
– genauso wie es Underachiever und Gedächtnisweltmeister gibt in diesem Verein.
Aber das verliert den Charakter des Wettbewerbs- Vor- oder Nachteils, weil es
keinen Wettbewerb gibt: Spannend ist, was anders ist. Und diese Spannung,
dieses Interesse ist das Gemeinsame, das Verbindende, der VORTEIL. Und weil
diese Neugier, dieses Interesse an allem was anders/neu für uns ist, uns
verbindet, gab es auch dieses Mal wieder ein Superprogramm an Besichtigungen,
Veranstaltungen, Workshops und Vorträgen. Das Orga-Team hatte in Münster ein
wahres Feuerwerk an Highlights organisiert. Man hatte ständig die Qual der
Wahl, weil viel Interessantes gleichzeitig lief und man sich entscheiden
musste, wo man persönlich dabei sein wollte und was man sich von anderen
erzählen lassen würde – oder verschieben auf ein anderes Mal. Ich hatte unter anderem
das Vergnügen, Prof. Thomas Metzinger persönlich zu erleben. Sein Vortrag „Unterwegs
zu einem neuen Menschenbild - Von der Neuroethik zur Bewusstseinsethik“ hielt
noch mehr, als er versprach. (4) Ich war begeistert, doch zunächst mal für Dich
ein kurzer Abriss, worum es ging:
Die Neuroethik, eine sehr junge Disziplin, untersucht
die neurobiologischen Ursachen des moralischen Verhaltens und befasst sich auch
mit den moralischen Problemen, welche sich aus der praktischen Anwendung
neurowissenschaftlicher Erkenntnisse
ergeben. Professor Metzinger forderte eine neue Neuro- und
Bewusstseinsethik der Zukunft, ohne ein fertiges System von ethischen Maximen
vorzustellen. Es gelang ihm sehr
überzeugend, eine ganze Reihe faszinierender Probleme aufzuzeigen – die neben
einer ethischen Herausforderung zugleich auch eine Bedrohung beinhalten. Wir wurden mit aktuellen Szenarien
konfrontiert: Es sind bereits Lifestyle-Medikamente auf dem Markt. Dass diese
Mittel oft illegal vertrieben werden, kommt einem verdeckten
Massenfreilandversuch gleich. Die Nebenwirkungen sind noch nicht ausreichend
erforscht, aber es gibt bereits Menschen, die diese Produkte einnehmen, weil
sie befürchten, im Konkurrenzkampf zu unterliegen. Es ist fast überflüssig zu sagen, dass solche
Mittel auch militärisch interessant sind, zum Beispiel um Soldaten tagelang
einsatzfähig zu halten – mit kaum überschaubaren Folgen. Und auch die
Kriminalistik hofft, mit Wahrheitsdrogen bessere Aufklärungsergebnisse oder
sogar Verbrechensvermeidung zu erreichen. Professor Metzinger fordert deshalb:
„Wir brauchen nicht nur eine Forschungsethik, sondern auch eine
Bewusstseinsethik. Denn wenn wir unser Gehirn immer gezielter beeinflussen
können, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, welche Bewusstseinszustände
überhaupt wünschenswert sind.“
Das Thema beschäftigt mich, wie Du ja weißt,
schon lange. Und damit war ich auch wieder bei unseren Fragen: Wer darf bestimmen,
welches Bewusstsein „richtig“ ist? Oder: Wem gehört mein Gehirn?
Als die Frauen Westeuropas in den 60er Jahren
mit der Losung „Mein Bauch gehört mir“ auf die Straßen gingen, hatte das bis
heute weitreichende Folgen. Und obwohl das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung
und Geburtenregelung sich immer stärker durchsetzen konnte, haben wir für diese
Folgen zwar Etiketten wie „Demografischer Wandel“, „Geburtenknick“,
„Rentnerschwemme“ (ein Unwort!) oder „Fachkräftemangel“ – aber keine ethisch
durchdachte und praktikable Lösung. Wir sehen diese Folgen wiederum als
Probleme, als negative Auswirkungen. Und fordern wieder mal, die Politik möge
einen akzeptablen (???) Rahmen zu deren möglichst schmerzfreier Bewältigung
liefern. (5)
Werden wir das Gleiche erleben, wenn die
Menschen anfangen zu demonstrieren mit der Losung „Mein Gehirn gehört mir“?
Werden wir überhaupt Demonstrationen erleben, die sich gegen die Manipulation
unseres Bewusstseins wehren?
Genau genommen unterliegen wir ja schon seit
Jahrhunderten immer wieder solchen Bestrebungen: Nicht nur die Werbung, auch
die Bildung und natürlich die Medien nutzen jede neue Erkenntnis über die
Funktionsweise unseres Gehirns, um „Botschaften“ zu platzieren. Es gibt ganze
Bibliotheken von Fachliteratur darüber, wie man beim Anderen die „richtige“
Wirkung erzielt. Wir manipulieren uns gegenseitig immer besser! Jetzt auch mit
technischer und pharmazeutischer Unterstützung.
Im Mittelalter wurden ideologische
Auseinandersetzungen mit den Mitteln der Inquisition entschieden. Auch das war
Manipulation. In Münster hängen an der Lambertikirche drei Käfige am Turm, in
denen drei Wiedertäufer nach ihrer Hinrichtung „für die Ewigkeit“ zur Schau
gestellt wurden. (6) Zur Abschreckung für Andersdenkende (s. Foto oben). Auch
das ist eine Form der Manipulation des Bewusstseins – in diesem Fall durch
demonstrierte Macht: Wer so Schicksal spielt für andere, wer sich also zum
Herrn über Leben und Tod aufschwingt, der kann in den Köpfen der Menschen kein
„normaler Mensch“ sein. Dabei war und ist auch diese Macht von Menschen
gemacht!
Heute wählen wir die Mächtigen, in den meisten demokratischen Staaten der
Welt jedenfalls sogar regelmäßig. Und geben ihnen damit die Macht, auch die
Macht über wichtige Entwicklungen in der Wissenschaft (7) oder über die
Wirkungsbedingungen von Wissenschaftlern. Denken wir dabei auch darüber nach, wie
die Politiker mit den Erkenntnissen der Wissenschaftler oder wie die
Wissenschaftler mit den Absichten der Politiker umgehen werden? Ich hoffe sehr,
dass nicht immer wieder die Verantwortung von einem zum anderen verwiesen wird.
Denn ich glaube, dass es sich lohnt, genau diese Zusammenhänge auf breiter
Basis zu diskutieren und gemeinsam nach Lösungen zu suchen – anstatt immer
wieder an die jeweils andere Seite unerfüllbare Forderungen zu richten. (8)
FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN
Natürlich geht es auch hier nicht nur
um eine andere Verteilung von viel zu wenig (?) Geld! Es geht – und das ist für
mich eine immer wichtigere Frage - um
die Wertschätzung dessen, was den Einzelnen ausmacht.
Wird es jemals ein Ende des Konkurrenzkampfes
geben? Müssen Menschen sich von Natur aus immer gegeneinander vergleichen, um
festzustellen, wer „besser“ ist? Die Alten gegen die Jungen, die Gebildeten
gegen die Ungebildeten, die Hochbegabten gegen die „Normalen“ und so weiter ...
ist denn jeder Unterschied zugleich ein Feld der Konkurrenz und
Auseinandersetzung? Werden diese
Unterschiede immer weiter den Vorwand liefern für Auseinandersetzungen bis hin
zu Glaubens- Kriegen, anstatt für Kooperation und gemeinsamen Fortschritt zu
dienen?
Du schreibst: „Mit ihrem eigenwilligen Leben
haben Bismarck & Thatcher große Erfolge, Siege und Ansehen erreicht. Für
Gott, die Krone – und naja auch für das Vaterland. (9)… Beides keine Menschen wie Du und ich – oder
doch?“ Und: „Politiker
wissen, dass sie anders ticken als normale Menschen.“
Doch, ich bin überzeugt, dass Politiker AUCH
normale Menschen sind wie Du und ich! Denn das wird keiner los. Bismarcks
schmerzende Wangen, Thatchers perfekt gestylte Frisur und auch bei beiden der
Rückzug im Alter, das sind so normale menschliche Faktoren. Dass sie außerdem
zusätzlich zu außergewöhnlichen Menschen wurden, haben ihnen andere Menschen
ermöglicht. Und zwar meist, ohne sich dessen bewusst zu sein. Normale Menschen
wie Du und ich! Genau so, wie normale Menschen andere daran hindern,
außergewöhnlich zu werden. Der von Dir zitierte Max Weber liefert mit seinem
Klassiker (wahrscheinlich unbeabsichtigt) auch hierfür eine Erklärung: "Die Politik bedeutet ein starkes
langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß
zugleich." (10) Das trifft nicht nur auf die Politik zu – das ist das
Wesen jeglichen echten Erfolges. Genau deshalb, weil man Erfolg nicht wirklich
haben kann ohne, wie Du schreibst „ein
starkes langsames Bohren. Disziplin. Von harten Brettern. Fleiß. Fleiß. Fleiß.
Mit Leidenschaft und Augenmaß. Begeisterung. Planung. Bescheidenheit.“ Ganz
unabhängig davon, welche Gaben uns die Natur mitgegeben hat oder über welche
Talente wir verfügen.
Was wir als Coaches tun können, ist ja
nicht die Vermehrung von Talent oder Begabung, sondern nur deren „Befreiung“
aus Verschleierung oder Widerständen. Und genau diese Widerstände, diese harten
Bretter, werden meist von anderen Menschen aufgebaut, die Verschleierung findet
durch andere statt. Oder wegen der anderen. Und die müssen wir nicht erst „an
uns heranlassen“, sie sind einfach immer da! Du schreibst, dass gerade Bismarck
besonders beratungsresistent gewesen sei und dass besonders Politiker gerne nur
„bedeutende“ Menschen in ihre Nähe lassen. Nun, ich glaube, diese Vorstellung
haben wir zum Teil auch dichterischen Konventionen zu verdanken: Die
Geschichtsschreiber finden halt einfach das Zimmermädchen, den Pagen, den
Friseur oder den Chauffeur einer „bedeutenden“ Persönlichkeit selten
erwähnenswert. Obwohl jeder weiß, dass genau diese „unbedeutenden“ Persönlichkeiten ganz besonders sorgfältig
ausgewählt werden, eben weil sie so nahe kommen und so unverzichtbar sind. Denn
sonst hätte ja Voltaire dem Alten Fritz
die Perücke pudern müssen! All diese
Bedeutung der Großen ist doch nur möglich, weil sich andere um das
Normalmenschliche ihres Lebens kümmern. Und das ist auch gut so. Denn damit bekommen
die entscheidenden Talente (bei Politikern ebenso wie bei Wissenschaftlern,
Künstlern, Sportlern usw.) die Chance, sichtbar und wirksam zu werden. Deshalb,
genau deshalb glaube ich, dass die unzähligen normalen Menschen wie Du und ich
genau so bedeutend sind! Und dass wir alle es endlich lernen müssen, das auch anzuerkennen.
Uns gegenseitig zu schätzen, so wie wir sind. Und dem anderen ohne Konkurrenz aber
auch ohne unangemessene Glorifizierung zu begegnen. Ihn/sie nicht zu „messen“,
und für mehr oder weniger „Wert (zu) befinden“. Denn nur dann werden auch
Erscheinungen wie Burnout, Workaholics, Mobbing wieder verschwinden können.
Und nur dann wird – mit oder ohne unsere Dienstleistung als Coaches –
jeder seine Talente entfalten können. Denn dann wird diese Entfaltung als
Nutzen und Bereicherung, als Dienst oder gar als Geschenk für die anderen
gesehen werden. Und nicht wie heute als Wettbewerbsvorteil, den man um jeden
Preis selbst nutzen und bei anderen behindern muss! Dann ist der Marathon (ich
danke Dir für diesen Vergleich!) von eisernem Durchhalten gegen Krankheit, Leid,
Schmerz und Schwäche endlich überflüssig und wir können zu einem normalen,
gesunden Ausgleich von Mühe und Erholung, Anstrengung und Muße, Betriebsamkeit
und Stille usw. finden. Dann werden wir vom Anderen nicht Unmögliches erwarten,
nicht mehr zu viel versprechen oder nicht vorhandene Fähigkeiten vortäuschen
müssen, um im Konkurrenzkampf zu bestehen. Dann wird es nicht mehr wichtig
sein, in irgendeiner Domäne „den Markt zu beherrschen“, und zu diesem Zwecke
andere Werte zu unterdrücken oder zu vernachlässigen. Erst dann wird jeder von
uns sich in seiner unverwechselbaren Einzigartigkeit entfalten können.
Ich glaube es ist kein Zufall, dass mich
diese Gedanken gerade während des Jahrestreffens in Münster so stark
beschäftigt haben. Und wie das immer so ist – ich habe genau zu diesem Thema in
Münster auffällig viele passende Bilder gefunden. Sie sprangen mich geradezu an.
Beispiele für den alltäglichen Wert des „normalen Menschen“. Ich habe sie hier
eingefügt, ohne sie bestimmten Gedanken zuzuordnen. Und im Hinterkopf hatte ich
die ganze Zeit die Brechtsche Variante unseres Prometheus-Themas: Fragen eines
lesenden Arbeiters „Wer baute das siebentorige Theben? ...“ (11)
Apropos: Wie Du weißt, beschäftige ich mich
neben dem Phänomen Hochbegabung vor allem mit Fragen der Führungsqualität, dem
konkreten Wirken und Verhalten von Führungskräften. Das sind in der Regel
Menschen wie Du und ich, die sich selbst in einem bestimmten Umfeld für
bedeutender als andere halten und – seltsamerweise – auch von diesen für
bedeutender gehalten werden. Die dabei ständig unter Druck stehen, keine Fehler
zu machen, keine Schwäche zu zeigen, besser zu sein usw. Und die gleichzeitig
mit ihrem Wirken für viele Andere die Bedingungen bestimmen, unter denen diese
sich entfalten können – oder auch nicht entfalten können.
FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN
Natürlich ist das Problem des demografischen
Wandels in diesem Zusammenhang besonders interessant. Denn es bedeutet
inzwischen, dass nicht mehr die „Alten“ darüber entscheiden, was aus den
„Jungen“ werden kann. Inzwischen sind die jüngeren Fachkräfte so selten und
deshalb so wertvoll geworden, dass sie eigentlich zunehmend Chancen haben
müssten. Seltsamerweise scheinen sie diese Chancen aber kaum zu finden. Meine
jüngeren Coachees haben jedenfalls nicht mehr nur das Problem, sich zwischen
ihren vielfältigen Interessen und Fähigkeiten nicht entscheiden zu können – sie
finden auch immer schwerer einen beruflichen Einstieg. Und gleichzeitig kommen
immer mehr ältere Berufstätige auf mich zu, die sich zu früh „ausgesondert“
sehen oder keinen Neueinstieg mehr finden. Ihnen stehen oft Personalentscheider
oder Vorgesetzte gegenüber, die ihre Kinder sein könnten. Und die ihnen aufgrund
des Alters nichts mehr zutrauen. Ist also der viel zitierte Fachkräftemangel
eher ein Wertschätzungsproblem? Können wir auch hier erst zu Lösungen kommen,
wenn wir nicht mehr nur das Etikett, das Zertifikat, die Vita – sondern endlich
den ganzen Menschen betrachten? Wenn wir bereit sind, die Ressourcen des
Einzelnen höher zu schätzen als seine hierarchische Bedeutsamkeit?
Ich bemühe mich sehr darum, dies in all
meinen Seminaren und Workshops zu vermitteln. Und ich freue mich über jede/n
Verbündete/n wie Dich. Deshalb ist unser
Gedankenaustausch für mich immer wieder ein großes Glück.
Liebe Lilli, mit dem Frühling sind auch neue
Projekte und Aufgaben herangewachsen. Es gibt viel zu tun. Die Sonne und das
frische Grün geben neuen Schwung und gleichzeitig Gelegenheit für schöne
entspannende Spaziergänge. Lass uns gelegentlich Bismarcks Beispiel folgen und
die Stille des Waldes genießen. Und dann mit neuer Kraft an die Arbeit – und an
unseren Briefwechsel gehen.
Ich freue mich auf Deine nächsten Gedanken.
Und ich wünsche Dir eine gute Zeit! Sei
umarmt
Deine Karin
1 Trauerfeier
für Margaret Thatcher: Letzter Gruß von Enkelin Amanda
2 Kaiser Wilhelm I. – und mit
Reichskanzler war – selbstredend – Bismarck gemeint.
3 Memento mori: Bedenke, dass du sterben musst.
Memento te hominem esse: Bedenke, dass du ein Mensch bist.
Respice post te, hominem te esse memento: Sieh dich um; denke daran, dass auch du nur ein
Memento te hominem esse: Bedenke, dass du ein Mensch bist.
Respice post te, hominem te esse memento: Sieh dich um; denke daran, dass auch du nur ein
Mensch bist. Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Memento_mori
7
gut zu verfolgen anhand der Diskussionen zur Ethik der Genforschung, z. B.
unter https://bv-ethik.de/aktuell
Oder http://www.faz.net/aktuell/wissen/mensch-gene/genforschung-wenn-eltern-wissen-wollen-11812758.html
9
Und für allzu viele Menschen haben sie riesigen Schaden angerichtet – und auch
damit sind sie „bedeutend“
geworden. Die Zahl ihrer Vorbilder und
Nachahmer füllt deshalb Millionen Geschichtsbücher
10
Weber, Max: Politik als Beruf. München und Leipzig: Duncker & Humblot,
1919, S. 66
11
Zitiert bei: http://sunday-news.wider-des-vergessens.de/?tag=bertold-brecht