Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

Translate

Sonntag, 12. Mai 2013

Finger weg: Mein Gehirn gehört mir!



Liebe Lilli,

herzlichen Dank für Deinen Brief! Es ist wirklich toll, wie viele Übereinstimmungen und gleichzeitig erweiternde, anregende Gedanken sich aus unserem Briefwechsel immer wieder ergeben. 

Du greifst gleich in Deinen ersten Sätzen diese Formulierung auf „…eine von uns, mit dem gleichen Schicksal wie alle Menschen“…, die der Bischof von London, Richard Chartres, bei der Trauerfeier für Margaret Thatcher sagte. (1) Und sofort ziehst Du – wie ich auch – dieses ‚gleiche Schicksal wie alle Menschen‘ in Zweifel.
Aber genau hier ist ja Zweifel scheinbar überflüssig: Das Einzige, was wirklich bei allen Menschen gleich ist, ist das Schicksal des Geborenwerdens und in der Folge Sterbenmüssens. Niemand ist davon ausgenommen. Nur in dem, was dazwischen liegt, unterscheiden sich Schicksale. Und in diesen Unterschieden liegt dann wohl auch die wahre Bedeutung des Einzelnen für alle anderen: Hat das Schicksal jemanden auf einen besonderen Posten gestellt, in eine besondere Zeit hineingeboren oder an einen besonderen Ort geführt, so scheint uns dieser Mensch besonders. Und wir führen dieses Besondere auf ihn selbst zurück: Die Queen kommt zur Beerdigung, weil diese Person gestorben ist? Wenn auf diesem Posten eine andere Person gelandet wäre, wäre die Queen dann auch zur Trauerfeier erschienen?

Und dann die Dichter: Ohne sie wüssten wir wahrscheinlich weniger, in jedem Falle aber Anderes über die Geschichte der Menschheit! Gedichtete Legenden liefern uns Heldenvorstellungen von Menschen, die einfach nicht „eine/r von uns“ gewesen sein können – zu außergewöhnlich sind ihre Taten, ihre Schicksale, ihre Bedeutung für den Rest der Welt! Bei mancher Gestalt ist zumindest zweifelhaft, ob sie jemals historisch real war – als Legende liefert sie uns einen Maßstab für „Größe“.

Ich erinnere mich, dass ich im Geschichtsunterricht in der Schule immer große Probleme hatte, mir die Erbfolge in Dynastien, die Namen geschichtsentscheidender Feldherren und die Jahreszahlen staatenvernichtender Kriege zu merken. Für mich hatten diese Fakten immer nur eine, Schicksal bildende Bedeutung: Die Figuren bewegen sich gegeneinander, die Auseinandersetzung führt im Ergebnis zu veränderten Dominanz-/Machtstrukturen und die Verluste sind in der Summe immer größer als die Gewinne. Dabei beeinflussen Wenige das Schicksal Vieler. Denn nicht nur die Kontrahenten sind betroffen, sondern ganze Völker, Bevölkerungsgruppen oder Regionen werden hineingezogen in Auseinandersetzungen, die sie nicht wollen. Und die sie nicht verstehen. Die für sie undurchschaubar bleiben. Aber die sie sich mit Hilfe von Dichtern oder Ideologen „zurecht“-erklären. Denn irgendwie muss ja die eine Seite gut und die andere böse sein. Und selbstverständlich möchte man gern selbst auf der Seite der „Guten“ stehen. Also muss doch ein funktionierendes Feindbild gefunden werden. Auch wenn man dafür dichten muss: Eine Niederlage ist nur erträglich, wenn der Sieger „übermächtig“ war, ein Sieg nur gerechtfertigt, wenn er der „Guten Sache“ diente.
Sind wir Menschen wirklich so?


FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN

Spielt uns unser Bewusstsein ständig diesen Streich, zugunsten einer annehmbaren Bewertung von Ereignissen oder Personen die Tatsachen zu „filtern“? Uns die Fakten so sehen zu lassen, dass sie uns passen? Und dass uns alle Menschen, bei denen wir diesen Filter- Aufwand nicht treiben (müssen) als „ganz normale“ Menschen erscheinen?

Wunderbar, Dein Zitat: „Es ist nicht leicht, unter einem solchen Reichskanzler Kaiser zu sein.“  (2) Klar ist das nicht leicht! Aber wieso ist das was Besonderes? Wer hat es schon leicht? Und wer hat Anspruch darauf, es leicht zu haben?

Ich glaube, wir Menschen neigen dazu, es uns leicht zu machen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Wir machen es uns sehr einfach, wenn wir aus einem anderen Menschen etwas Besonderes machen. Das erspart es uns nämlich, den anderen wirklich zu sehen. Ihn mit all seiner Widersprüchlichkeit wahrzunehmen. Und es erspart uns auch, uns mit unserem eigenen Anteil am Wesen des anderen auseinander zu setzen. Ein Kaiser, der darüber klagt, UNTER einem Kanzler kaisern zu müssen! Das verstehe wer will. Nun, ich will:

Entgegen der mystifizierten Kaiser-Vorstellung und ähnlicher Pauschalbilder von „denen da oben“ hat keine einzige menschliche Person tatsächlich die absolute Macht. Es gibt immer begünstigende Umstände und Helfer. Schon das Zulassen von Selbstherrlichkeit ist ja Unterstützung. Selbst das Beeindruckt-Sein gibt dem anderen schon einen Status, den er/sie sich selbst vielleicht gar nicht zuschreiben würde. Genau genommen reagieren wir doch damit nicht auf den realen Anderen, sondern nur auf unsere Vorstellung von ihm. Auf das Bild, das wir selbst uns von ihm machen. Und Kaiser Wilhelm I. hatte von Bismarck ganz bestimmt die Vorstellung, dass dieser in seinem Kanzleramt überwiegend nützlich sei. Dass er schon wissen werde, was richtig ist. Und dass er schließlich zuständig sei, „dem Kaiser und dem Vaterland zu dienen“  - was immer das auch heißen mochte. Da war es doch für Bismarck wiederum auch einfach, seine persönlichen Zweifel mit dem Glauben an höhere Werte zu überwinden: „Das habe ich mit Gott abgemacht“ heißt dann ja wohl auch „hier haben Menschen nichts mehr zu sagen“? Nicht mal der Kaiser? Ist somit der Kaiser, der eben doch noch sein mächtiger Dienstherr war, endlich mal als bedeutungslos enttarnt? Mitnichten! Nur als beeinflussbar, umgehbar, in bestimmten Fragen durch Umstände bezwingbar – wie JEDER NORMALE MENSCH. Und auf diese Einsicht folgt dann Resignation.


FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN

Der Ausspruch der alten Römer „memento mori…“ (3), der gerade im Augenblick größten Triumphes an das menschlich-Kleine des Einzelnen erinnern sollte, kann vielleicht auch anders gedeutet werden? Bedeutet er nicht im Umkehrschluss auch: Du bist nicht größer als andere, also ist niemand kleiner als Du? Meint er nicht im tiefsten Sinne: Alle Menschen sind wertvoll, müssen wertgeschätzt werden? Brauchen wir also den Größen-Vergleich gar nicht?

Oder sind die Legenden und Heldengeschichten einfach nur Mittel zum Zweck? Dienen sie dem Machterhalt, der Unterdrückung und Demütigung der ganz normalen Menschen – du gehörst zu den Kleinen, halte still, bleibe bescheiden, stelle keine Ansprüche, habe keine Meinung!!! Erwarte nichts, sei dankbar für alles und lass die Großen machen!  Wenn ja, wie lange wird die Menschheit dann solche Heldengeschichten noch brauchen? Wann werden wir in der Lage sein, für uns selbst genügend Ehrlichkeit aufzubringen und zu durchschauen, dass wir unser Bild vom Anderen selber machen? Dass der Andere nicht so IST, wie wir ihn sehen, sondern dass uns unsere eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Emotionen ein Bild von ihm liefern. Und dass im Gegenzug der Andere sich von uns ein Bild macht, was wahrscheinlich sehr von unserem eigenen Selbstbild abweicht. Egal, ob wir selbst uns unter- oder überschätzen: Der Andere hat dazu seine eigenen Meinung. Und dementsprechend geht er/sie mit uns um! Wie oft sind die „Großen“ überhöht gesehen und dargestellt worden? Und was war Ursache, was Wirkung: Wird klein, wen andere als klein behandeln und groß, wer groß gesehen wird? Glaubten die Herrscher „von Gottes Gnaden“ sich so allmächtig, weil man es ihnen von Kindheit an sagte – oder waren sie so mächtig, weil sie es glaubten?  Wenn wir erst mal so weit gekommen sind, dass wir unsere eigene Haltung zu uns selbst genauso wie die Haltung zu Helden und Vorbildern hinterfragen, dann werden wir sicher auch toleranter. Ich hoffe es sehr. Und ich bin überzeugt, dass es gelingen kann. Denn ich erlebe es immer mal wieder- noch nicht dauerhaft und nicht in jedem Umfeld, aber ermutigend häufig.

Erst vor Kurzem nämlich, auf dem Mensa-Jahrestreffen in Münster, hatte ich wieder ein paar Tage dieses Erlebnis von allgemeiner und gleichzeitig respektvoller Interessiertheit am Anderen. Und das obwohl die Unterschiede der Schicksale, der Leistungen und der Positionen größer fast nicht sein könnten. Aber genau diese Unterschiede machten die Begegnungen ja so spannend. In gewissem Sinne wurde hier einfach vorausgesetzt, dass jeder, der dabei war, auch „eine/r von uns“ war. Natürlich war das nur eine Annahme, denn es waren auch Gäste dabei, die ihren IQ gar nicht kannten (also auch „normale“ Menschen).


FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN


Dennoch gab und gibt es bei uns auch außerhalb des Vereins keinen Wettbewerb und keine Konkurrenz darum, wer „größer“ respektive intelligenter ist, wer mehr Bedeutung für die Menschheit oder die eindrucksvollere  Position hat, wessen Schicksal besonderer ist. Natürlich gibt es unter uns auch Egozentriker – genauso wie es Underachiever und Gedächtnisweltmeister gibt in diesem Verein. Aber das verliert den Charakter des Wettbewerbs- Vor- oder Nachteils, weil es keinen Wettbewerb gibt: Spannend ist, was anders ist. Und diese Spannung, dieses Interesse ist das Gemeinsame, das Verbindende, der VORTEIL. Und weil diese Neugier, dieses Interesse an allem was anders/neu für uns ist, uns verbindet, gab es auch dieses Mal wieder ein Superprogramm an Besichtigungen, Veranstaltungen, Workshops und Vorträgen. Das Orga-Team hatte in Münster ein wahres Feuerwerk an Highlights organisiert. Man hatte ständig die Qual der Wahl, weil viel Interessantes gleichzeitig lief und man sich entscheiden musste, wo man persönlich dabei sein wollte und was man sich von anderen erzählen lassen würde – oder verschieben auf ein anderes Mal. Ich hatte unter anderem das Vergnügen, Prof. Thomas Metzinger persönlich zu erleben. Sein Vortrag „Unterwegs zu einem neuen Menschenbild - Von der Neuroethik zur Bewusstseinsethik“ hielt noch mehr, als er versprach. (4) Ich war begeistert, doch zunächst mal für Dich ein kurzer Abriss, worum es ging:

Die Neuroethik, eine sehr junge Disziplin, untersucht die neurobiologischen Ursachen des moralischen Verhaltens und befasst sich auch mit den moralischen Problemen, welche sich aus der praktischen Anwendung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse  ergeben. Professor Metzinger forderte eine neue Neuro- und Bewusstseinsethik der Zukunft, ohne ein fertiges System von ethischen Maximen vorzustellen.  Es gelang ihm sehr überzeugend, eine ganze Reihe faszinierender Probleme aufzuzeigen – die neben einer ethischen Herausforderung zugleich auch eine Bedrohung beinhalten.  Wir wurden mit aktuellen Szenarien konfrontiert: Es sind bereits Lifestyle-Medikamente auf dem Markt. Dass diese Mittel oft illegal vertrieben werden, kommt einem verdeckten Massenfreilandversuch gleich. Die Nebenwirkungen sind noch nicht ausreichend erforscht, aber es gibt bereits Menschen, die diese Produkte einnehmen, weil sie befürchten, im Konkurrenzkampf zu unterliegen.  Es ist fast überflüssig zu sagen, dass solche Mittel auch militärisch interessant sind, zum Beispiel um Soldaten tagelang einsatzfähig zu halten – mit kaum überschaubaren Folgen. Und auch die Kriminalistik hofft, mit Wahrheitsdrogen bessere Aufklärungsergebnisse oder sogar Verbrechensvermeidung zu erreichen. Professor Metzinger fordert deshalb: „Wir brauchen nicht nur eine Forschungsethik, sondern auch eine Bewusstseinsethik. Denn wenn wir unser Gehirn immer gezielter beeinflussen können, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, welche Bewusstseinszustände überhaupt wünschenswert sind.“



FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN

Das Thema beschäftigt mich, wie Du ja weißt, schon lange. Und damit war ich auch wieder bei unseren Fragen: Wer darf bestimmen, welches Bewusstsein „richtig“ ist? Oder: Wem gehört mein Gehirn?

Als die Frauen Westeuropas in den 60er Jahren mit der Losung „Mein Bauch gehört mir“ auf die Straßen gingen, hatte das bis heute weitreichende Folgen. Und obwohl das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Geburtenregelung sich immer stärker durchsetzen konnte, haben wir für diese Folgen zwar Etiketten wie „Demografischer Wandel“, „Geburtenknick“, „Rentnerschwemme“ (ein Unwort!) oder „Fachkräftemangel“ – aber keine ethisch durchdachte und praktikable Lösung. Wir sehen diese Folgen wiederum als Probleme, als negative Auswirkungen. Und fordern wieder mal, die Politik möge einen akzeptablen (???) Rahmen zu deren möglichst schmerzfreier Bewältigung liefern. (5)

Werden wir das Gleiche erleben, wenn die Menschen anfangen zu demonstrieren mit der Losung „Mein Gehirn gehört mir“? Werden wir überhaupt Demonstrationen erleben, die sich gegen die Manipulation unseres Bewusstseins wehren?

Genau genommen unterliegen wir ja schon seit Jahrhunderten immer wieder solchen Bestrebungen: Nicht nur die Werbung, auch die Bildung und natürlich die Medien nutzen jede neue Erkenntnis über die Funktionsweise unseres Gehirns, um „Botschaften“ zu platzieren. Es gibt ganze Bibliotheken von Fachliteratur darüber, wie man beim Anderen die „richtige“ Wirkung erzielt. Wir manipulieren uns gegenseitig immer besser! Jetzt auch mit technischer und pharmazeutischer Unterstützung.

Im Mittelalter wurden ideologische Auseinandersetzungen mit den Mitteln der Inquisition entschieden. Auch das war Manipulation. In Münster hängen an der Lambertikirche drei Käfige am Turm, in denen drei Wiedertäufer nach ihrer Hinrichtung „für die Ewigkeit“ zur Schau gestellt wurden. (6) Zur Abschreckung für Andersdenkende (s. Foto oben). Auch das ist eine Form der Manipulation des Bewusstseins – in diesem Fall durch demonstrierte Macht: Wer so Schicksal spielt für andere, wer sich also zum Herrn über Leben und Tod aufschwingt, der kann in den Köpfen der Menschen kein „normaler Mensch“ sein. Dabei war und ist auch diese Macht von Menschen gemacht!

Heute wählen wir die Mächtigen,  in den meisten demokratischen Staaten der Welt jedenfalls sogar regelmäßig. Und geben ihnen damit die Macht, auch die Macht über wichtige Entwicklungen in der Wissenschaft (7) oder über die Wirkungsbedingungen von Wissenschaftlern. Denken wir dabei auch darüber nach, wie die Politiker mit den Erkenntnissen der Wissenschaftler oder wie die Wissenschaftler mit den Absichten der Politiker umgehen werden? Ich hoffe sehr, dass nicht immer wieder die Verantwortung von einem zum anderen verwiesen wird. Denn ich glaube, dass es sich lohnt, genau diese Zusammenhänge auf breiter Basis zu diskutieren und gemeinsam nach Lösungen zu suchen – anstatt immer wieder an die jeweils andere Seite unerfüllbare Forderungen zu richten. (8)




FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN

Natürlich geht es auch hier nicht nur um eine andere Verteilung von viel zu wenig (?) Geld! Es geht – und das ist für mich eine immer wichtigere Frage -  um die Wertschätzung dessen, was den Einzelnen ausmacht.


Wird es jemals ein Ende des Konkurrenzkampfes geben? Müssen Menschen sich von Natur aus immer gegeneinander vergleichen, um festzustellen, wer „besser“ ist? Die Alten gegen die Jungen, die Gebildeten gegen die Ungebildeten, die Hochbegabten gegen die „Normalen“ und so weiter ... ist denn jeder Unterschied zugleich ein Feld der Konkurrenz und Auseinandersetzung?  Werden diese Unterschiede immer weiter den Vorwand liefern für Auseinandersetzungen bis hin zu Glaubens- Kriegen, anstatt für Kooperation und gemeinsamen Fortschritt zu dienen?

Du schreibst: „Mit ihrem eigenwilligen Leben haben Bismarck & Thatcher große Erfolge, Siege und Ansehen erreicht. Für Gott, die Krone – und naja auch für das Vaterland. (9)… Beides keine Menschen wie Du und ich – oder doch?“ Und:  „Politiker wissen, dass sie anders ticken als normale Menschen.“

Doch, ich bin überzeugt, dass Politiker AUCH normale Menschen sind wie Du und ich! Denn das wird keiner los. Bismarcks schmerzende Wangen, Thatchers perfekt gestylte Frisur und auch bei beiden der Rückzug im Alter, das sind so normale menschliche Faktoren. Dass sie außerdem zusätzlich zu außergewöhnlichen Menschen wurden, haben ihnen andere Menschen ermöglicht. Und zwar meist, ohne sich dessen bewusst zu sein. Normale Menschen wie Du und ich! Genau so, wie normale Menschen andere daran hindern, außergewöhnlich zu werden. Der von Dir zitierte Max Weber liefert mit seinem Klassiker (wahrscheinlich unbeabsichtigt) auch hierfür eine Erklärung: "Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich." (10) Das trifft nicht nur auf die Politik zu – das ist das Wesen jeglichen echten Erfolges. Genau deshalb, weil man Erfolg nicht wirklich haben kann ohne, wie Du schreibst  „ein starkes langsames Bohren. Disziplin. Von harten Brettern. Fleiß. Fleiß. Fleiß. Mit Leidenschaft und Augenmaß. Begeisterung. Planung. Bescheidenheit.“ Ganz unabhängig davon, welche Gaben uns die Natur mitgegeben hat oder über welche Talente wir verfügen.


Was wir als Coaches tun können, ist ja nicht die Vermehrung von Talent oder Begabung, sondern nur deren „Befreiung“ aus Verschleierung oder Widerständen. Und genau diese Widerstände, diese harten Bretter, werden meist von anderen Menschen aufgebaut, die Verschleierung findet durch andere statt. Oder wegen der anderen. Und die müssen wir nicht erst „an uns heranlassen“, sie sind einfach immer da! Du schreibst, dass gerade Bismarck besonders beratungsresistent gewesen sei und dass besonders Politiker gerne nur „bedeutende“ Menschen in ihre Nähe lassen. Nun, ich glaube, diese Vorstellung haben wir zum Teil auch dichterischen Konventionen zu verdanken: Die Geschichtsschreiber finden halt einfach das Zimmermädchen, den Pagen, den Friseur oder den Chauffeur einer „bedeutenden“ Persönlichkeit selten erwähnenswert. Obwohl jeder weiß, dass genau diese „unbedeutenden“  Persönlichkeiten ganz besonders sorgfältig ausgewählt werden, eben weil sie so nahe kommen und so unverzichtbar sind. Denn sonst hätte  ja Voltaire dem Alten Fritz die Perücke pudern müssen!  All diese Bedeutung der Großen ist doch nur möglich, weil sich andere um das Normalmenschliche ihres Lebens kümmern. Und das ist auch gut so. Denn damit bekommen die entscheidenden Talente (bei Politikern ebenso wie bei Wissenschaftlern, Künstlern, Sportlern usw.) die Chance, sichtbar und wirksam zu werden. Deshalb, genau deshalb glaube ich, dass die unzähligen normalen Menschen wie Du und ich genau so bedeutend sind! Und dass wir alle es endlich lernen müssen, das auch anzuerkennen. Uns gegenseitig zu schätzen, so wie wir sind. Und dem anderen ohne Konkurrenz aber auch ohne unangemessene Glorifizierung zu begegnen. Ihn/sie nicht zu „messen“, und für mehr oder weniger „Wert (zu) befinden“. Denn nur dann werden auch Erscheinungen wie Burnout, Workaholics, Mobbing wieder verschwinden können.




FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN

Und nur dann wird – mit oder ohne unsere Dienstleistung als Coaches – jeder seine Talente entfalten können. Denn dann wird diese Entfaltung als Nutzen und Bereicherung, als Dienst oder gar als Geschenk für die anderen gesehen werden. Und nicht wie heute als Wettbewerbsvorteil, den man um jeden Preis selbst nutzen und bei anderen behindern muss! Dann ist der Marathon (ich danke Dir für diesen Vergleich!) von eisernem Durchhalten gegen Krankheit, Leid, Schmerz und Schwäche endlich überflüssig und wir können zu einem normalen, gesunden Ausgleich von Mühe und Erholung, Anstrengung und Muße, Betriebsamkeit und Stille usw. finden. Dann werden wir vom Anderen nicht Unmögliches erwarten, nicht mehr zu viel versprechen oder nicht vorhandene Fähigkeiten vortäuschen müssen, um im Konkurrenzkampf zu bestehen. Dann wird es nicht mehr wichtig sein, in irgendeiner Domäne „den Markt zu beherrschen“, und zu diesem Zwecke andere Werte zu unterdrücken oder zu vernachlässigen. Erst dann wird jeder von uns sich in seiner unverwechselbaren Einzigartigkeit entfalten können.

Ich glaube es ist kein Zufall, dass mich diese Gedanken gerade während des Jahrestreffens in Münster so stark beschäftigt haben. Und wie das immer so ist – ich habe genau zu diesem Thema in Münster auffällig viele passende Bilder gefunden. Sie sprangen mich geradezu an. Beispiele für den alltäglichen Wert des „normalen Menschen“. Ich habe sie hier eingefügt, ohne sie bestimmten Gedanken zuzuordnen. Und im Hinterkopf hatte ich die ganze Zeit die Brechtsche Variante unseres Prometheus-Themas: Fragen eines lesenden Arbeiters „Wer baute das siebentorige Theben? ...“ (11)

Apropos: Wie Du weißt, beschäftige ich mich neben dem Phänomen Hochbegabung vor allem mit Fragen der Führungsqualität, dem konkreten Wirken und Verhalten von Führungskräften. Das sind in der Regel Menschen wie Du und ich, die sich selbst in einem bestimmten Umfeld für bedeutender als andere halten und – seltsamerweise – auch von diesen für bedeutender gehalten werden. Die dabei ständig unter Druck stehen, keine Fehler zu machen, keine Schwäche zu zeigen, besser zu sein usw. Und die gleichzeitig mit ihrem Wirken für viele Andere die Bedingungen bestimmen, unter denen diese sich entfalten können – oder auch nicht entfalten können.


FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN

Natürlich ist das Problem des demografischen Wandels in diesem Zusammenhang besonders interessant. Denn es bedeutet inzwischen, dass nicht mehr die „Alten“ darüber entscheiden, was aus den „Jungen“ werden kann. Inzwischen sind die jüngeren Fachkräfte so selten und deshalb so wertvoll geworden, dass sie eigentlich zunehmend Chancen haben müssten. Seltsamerweise scheinen sie diese Chancen aber kaum zu finden. Meine jüngeren Coachees haben jedenfalls nicht mehr nur das Problem, sich zwischen ihren vielfältigen Interessen und Fähigkeiten nicht entscheiden zu können – sie finden auch immer schwerer einen beruflichen Einstieg. Und gleichzeitig kommen immer mehr ältere Berufstätige auf mich zu, die sich zu früh „ausgesondert“ sehen oder keinen Neueinstieg mehr finden. Ihnen stehen oft Personalentscheider oder Vorgesetzte gegenüber, die ihre Kinder sein könnten. Und die ihnen aufgrund des Alters nichts mehr zutrauen. Ist also der viel zitierte Fachkräftemangel eher ein Wertschätzungsproblem? Können wir auch hier erst zu Lösungen kommen, wenn wir nicht mehr nur das Etikett, das Zertifikat, die Vita – sondern endlich den ganzen Menschen betrachten? Wenn wir bereit sind, die Ressourcen des Einzelnen höher zu schätzen als seine hierarchische Bedeutsamkeit?

Ich bemühe mich sehr darum, dies in all meinen Seminaren und Workshops zu vermitteln. Und ich freue mich über jede/n Verbündete/n wie Dich. Deshalb  ist unser Gedankenaustausch für mich immer wieder ein großes Glück.

Liebe Lilli, mit dem Frühling sind auch neue Projekte und Aufgaben herangewachsen. Es gibt viel zu tun. Die Sonne und das frische Grün geben neuen Schwung und gleichzeitig Gelegenheit für schöne entspannende Spaziergänge. Lass uns gelegentlich Bismarcks Beispiel folgen und die Stille des Waldes genießen. Und dann mit neuer Kraft an die Arbeit – und an unseren Briefwechsel gehen.

Ich freue mich auf Deine nächsten Gedanken.
Und ich wünsche Dir eine gute Zeit! Sei umarmt

Deine Karin


FOTO: DR. KARIN RASMUSSEN


1 Trauerfeier für Margaret Thatcher: Letzter Gruß von Enkelin Amanda
2 Kaiser Wilhelm I. – und mit Reichskanzler war – selbstredend – Bismarck gemeint.
3 Memento mori: Bedenke, dass du sterben musst.
  Memento te hominem esse: Bedenke, dass du ein Mensch bist.
  Respice post te, hominem te esse memento: Sieh dich um; denke daran, dass auch du nur ein  
7 gut zu verfolgen anhand der Diskussionen zur Ethik der Genforschung, z. B. unter https://bv-ethik.de/aktuell
9 Und für allzu viele Menschen haben sie riesigen Schaden angerichtet – und auch damit sind sie „bedeutend“
  geworden. Die Zahl ihrer Vorbilder und Nachahmer füllt deshalb Millionen Geschichtsbücher
10 Weber, Max: Politik als Beruf. München und Leipzig: Duncker & Humblot, 1919, S. 66