Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

Translate

Sonntag, 28. April 2013

Gottes Soldat und die Amazone

Liebe Karin,

BRAVO! Das ist ja ein spannender Vergleich: Der „Eiserne Kanzler“ und die „Eiserne Lady“. Bismarck als einer der politischen Hauptakteure des 19. Jahrhunderts in Preussen/Deutschland – Thatcher als eine ebensolche Figur im 20. Jahrhundert des Vereinigten Königreichs. 

Beide scheinen beseelt von ihrer Pflicht,  ihren Visionen und Herausforderungen gewesen zu sein: Die Vormachtstellung Preussens und die Einigung des Deutschen Reiches – hier. Das Leben als  „Retterin der britischen Wirtschaft“ (1) – dort.

Und was es sonst noch alles gewesen war, werden wir von den Historikern erfahren. Im Laufe der Zeit. Es wird weiterhin Interpretationen mit unterschiedlichen Pointierungen und Nuancen geben. Wir dürfen gespannt bleiben. Und sehen, wie unsere Fragen beantwortet werden.

Zweifellos: Beide Politiker waren „ganz normale Menschen“ – oder wie der Bischof von London, Richard Chartres, bei der Trauerfeier für Margaret Thatcher  sagte: „Die Verstorbene sei in der Kirche ‚eine von uns, mit dem gleichen Schicksal wie alle Menschen‘“. (2)

Aber was heisst das: ‚Eine von uns‘? „Mit dem gleichen Schicksal wie alle Menschen“? Zwei Menschen mit ganz normalen Bedürfnissen und Wünschen: Hunger, Durst, Schlaf – Liebe, Bewegung? Sicher. Aber eben auch noch einiges darüber hinaus. Denn bei ganz ‚normalen Menschen‘ kommt zumeist nicht die Queen zur Beerdigung, schweigt nicht der Big Ben – und ist die Gesellschaft nicht bis ins Mark gespalten.

Und bei Bismarck? Bei einem ganz normalen Menschen, greift kein Theodor Fontane der Zeitgeschichte zum Stift und dichtet:

„Nicht in Dom oder Fürstengruft,
er ruh' in Gottes freier Luft
draußen auf Berg und Halde,
noch besser, tief, tief im Walde
Widukind lädt ihn zu sich ein:

‚Ein Sachse war er, drum ist er mein,
im Sachsenwald soll er begraben sein.‘

Der Leib zerfällt, der Stein zerfällt,
aber der Sachsenwald, der hält,
und kommen nach dreitausend Jahren
Fremde hier des Weges gefahren
und sehen geborgen vorm Licht der Sonnen,
den Waldgrund in Efeu tief eingesponnen
und staunen der Schönheit und jauchzen froh,
so gebietet einer: ‚Lärm nicht so! -

Hier unten liegt Bismarck irgendwo.‘“ (3)

Und welcher Kaiser hätte je gesagt: „Es ist nicht leicht, unter einem solchen Reichskanzler Kaiser zu sein.“? Kaiser Wilhelm I. – und mit Reichskanzler war – selbstredend – Bismarck gemeint. (4)

Wie war Bismarck, dass es – im 19. Jahrhundert in einer autoritären Kultur – für einen Kaiser „nicht leicht“ war, mit ihm klar zu kommen?  Oder anders gesagt: Was machte Bismarck so stark? So grenzenlos? So selbstsicher?


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

Auffallend ist des Schönhauseners Unbeirrbarkeit in der grossen Linie, seine Willensstärke im Grossen und Ganzen, auffallend ist sein Mut. Durch wen oder was wurde seine Grösse gespeist?  Durch sein Selbstbewusstsein. Aber auch dieses war an eine Quelle angeschlossen: Gott.

Wir alle kennen diesen Satz aus seiner Rede im Reichstag: „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!” (5) Das war für Bismarck  nicht immer so. Persönliche Briefe bezeugen: In der Jugend gab es Zeiten, in denen er sich innerlich leer fühlte und das Beten verlernt hatte. (6) Als er jedoch Johanna von Puttkammer heiratet - eine tief religiöse Protestantin - sagt Bismarck, er habe "den Glauben an einen persönlichen Gott, an ein Jenseits und an die christliche Heilslehre wieder gewonnen". (7)

Im Gespräch mit Gott und als „Gottes Soldat“ (8) zieht er dann in die Kriege. In die Kriege, die er gewinnt. Im Glauben an seine eigene Unverwundbarkeit?  Verwundbar scheint er in seiner Seele zu sein. Aber auch mit ihr ist er ins Reine gekommen: "Ohne mich hätte es drei große Kriege nicht gegeben, wären 80000 Menschen nicht umgekommen, und Eltern, Brüder, Schwestern, Witwen trauerten nicht. Das habe ich indes mit Gott abgemacht." (9)

Bismarck kämpfte  als Gottes Soldat für den König. Und gewann. Denn Gott persönlich war an seiner Seite – so seine Überzeugung. Bismarcks „Gott wird mit uns sein!“ (10) machte den „Eisernen Kanzler“  über weite Strecken unangreifbar machtvoll und erfolgreich. Altruistisch? Als ich sehr jung einmal in Friedrichsruh an seinem Schreibtisch stand, war ich von seiner Kraft, seiner Unermüdlichkeit und seinem Lebenswerk beeindruckt. Altruismus? Da müsste ich sehr viel tiefer graben.

Margaret Thatcher? Auch eine beeindruckende Lebensleistung – für die einen. Für viele ihrer Landsleute genau das Gegenteil. Ebenfalls ein Mensch, der die Menschen nicht unberührt liess.


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

„Sie glaubte, gewissermaßen die Welt gerettet zu haben, und das spricht für große Egozentrik“, sagte ihr Biograph Charles Moore (11).  Ganz offensichtlich war sie von glühender Begeisterung für sich selbst, suchte „sehr“ das Abenteuer und „war erfüllt vom Bestreben, die Männerwelt zu erobern“. (12) In einer Zeit, in der andere Frauen gerade mal entdeckt hatten, dass sie (zumeist) nicht die gläserne Decke nach oben durchbrechen können – sagte Maggie Thatcher den Jungs den Kampf an. Und gewann.

Und das nicht nur auf dem frisch gebohnerten politischen Parkett in London, sondern auch noch ein paar Tausend Kilometer weiter entfernt im südlichen Atlantik: der Sieg auf den Falkland-Inseln sicherte auch ihr politisches Überleben auf der heimischen Insel. SelbstbewusstseinXXL mag zwar nicht immer zum Sieg führen, aber mit gewissen Methoden, Einstellungen und Verhaltensweisen im Portfolio war Thatcher zu dieser Zeit auf der richtigen Seite des Erfolgs.

Immer perfekt frisiert, schmuckreich gestylt und immer mit der legendären schwarzen Handtasche – wer hätte sich vorstellen können, dass Sie Schocks liebt? Biograph Moore:  „Sie liebte es, schockiert zu werden. (…) So angepasst sie nach außen hin auch wirkte, betrachtete sie das Ganze als ein gigantisches Abenteuer. Trotz ihrer ernsten Züge flirtete sie gern (…)“. (13)

Eine Amazone in 10 Downing Street.

Auch hier frage ich mich: Woher kam Ihr Selbstbewusstsein? Ihre Selbstsicherheit? In einer Zeit, in der die Frauen in Mitteleuropa anfingen, das Wort Emanzipation zu buchstabieren? Wir werden wohl darauf warten, was die Historiker im Laufe der Zeit ans Licht bringen. Einen ersten Hinweis habe ich bei ihrem Biographen entdecken können: Thatcher „liebte die King-James-Bibel“. (14) Ihr Vater war Politiker und Laienprediger. War die „Eiserne Lady“ – ähnlich wie Bismarck – im steten Gespräch mit Gott? Und bezog sie von dort ihre Kraft, ihren Mut und ihren Eigensinn?

Beides keine Menschen wie Du und ich – oder doch?

Mit ihrem eigenwilligen Leben haben Bismarck & Thatcher grosse Erfolge, Siege und Ansehen erreicht. Für Gott, die Krone – und naja auch für das Vaterland.


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

So glänzend sie auch dastehen in der Welt – die andere Seite der Medaille ist zumeist weniger hochglanzpoliert.

Von Bismarcks „Hölle“ haben wir schon gelesen. Und von der Unfähigkeit zu erkennen, dass seine schmerzenden Wangen – er liess sich deshalb einen mächtigen Vollbart stehen – schreibt der Spiegel bereits 1950 (15) – „nur“ Zahnschmerzen waren: Bismarck hatte Angst zum Zahnarzt zu gehen. Wer kann das nicht nachvollziehen?

Ebenso wie die schlaflosen Nächte. Weil er sich hat übermannen lassen von einem abgrundtiefen Hass: auf wirkliche und eingebildete Feinde. Ja, einen guten Coach an seiner Seite hätte er wirklich brauchen können. Und natürlich auch einen fähigen Zahnarzt.

Und Margaret Thatcher? Sie machte fast alles mit ihrem Willen: "Man muss mit einem eisernen Willen daran gehen, diese Schwierigkeiten zu überwinden." (16) Aber nicht nur: „Ja, sie war auch sehr nachdenklich. (…) Sie hatte außerdem die Einstellung, immer nach vorn zu schauen. (…) Sie wollte keine Schwachstellen zeigen.“ (17) Aber: wer will das schon?

Also: Ja, Karin! Beide – Bismarck und Thatcher – sind aus ähnlichem Holz geschnitzt. Wie wahrscheinlich auch noch andere Ausnahmepersönlichkeiten, die in der Politik zu Hause sind.

Politiker wissen, dass sie anders ticken als normale Menschen. Es gibt da eine „Betriebsanleitung“, die sicher jeder Mensch im Politikbetrieb vom ersten Tag an gelernt hat: "Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmass zugleich." (18) Ein starkes langsames Bohren. Disziplin. Von harten Brettern. Fleiss. Fleiss. Fleiss. Mit Leidenschaft und Augenmass. Begeisterung. Planung. Bescheidenheit.


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

Der Klassiker aus Max Webers Werk „Politik als Beruf“.

Du fragst: „Brauchten sie keine „Hilfe“? Probleme, Leid und Schmerz hatten sie doch auch? Oder hatten sie ganz selbstverständlich immer Helfer um sich, die ihnen die Kraft und auch mal den entscheidenden Rat zur Überwindung ihrer schweren Stunden geben konnten?“

Früher – und damit meine ich vor allem Bismarck – waren die Politiker zumeist beratungsresistent. Wenn sie je einen anderen Menschen in ihre Nähe gelassen haben, dann musste dies eine sehr grosse Persönlichkeit sein. Wie etwa Friedrich II. – der alte Fritz – der Voltaire in seinem Schloss willkommen hiess, ihn goutierte. Aber ihn dann - seiner überdrüssig - nach Hause schickte.

Wer hätte Bismarck das Wasser reichen können? Wenn selbst ein Kaiser – auch wenn es im Spass gemeint sein sollte – sich ihm unterlegen fühlte? Bismarck vertraute seiner Frau. Und von ihr konnte er auch einen Rat annehmen. Der Arzt Ernst Schweninger konnte seine Gesundheit positiv beeinflussen.

Auch wenn es auf den ersten Blick anders wirkt, Bismarck liebte die Stille. Und er gönnte sich Spaziergänge. Und nicht nur die. Manchmal kehrte er Berlin wochenlang den Rücken, um in die Stille zu gehen. Nach Hause. In die Familie. In die Wälder. Heute einfach unvorstellbar.

Auch Maggie Thatcher muss ihre Mussezeiten geliebt haben. Es ist bekannt, dass sie die Romantik liebte. Gedichte, die sie auswendig kannte. In der Kirche musste sie nicht ins Gesangbuch schauen – sie kannte die Texte auswendig. Irgendwann muss sie auswendig gelernt haben.

An die Stille denke ich in diesen Wochen recht oft. Und an Menschen, die immer mehr die Ruhe suchen – und finden. Schön, dass Dich ebenfalls solche Gedanken erreichen.

Zurück zum Politikbetrieb: Ich habe die Erfahrung gemacht, mit dem „Eisern sein“  gegen Krankheit, Leid und Schmerzen kann es ähnlich sein wie beim Laufen. Irgendwann hat man den Punkt überwunden, an dem die Beine weh tun – man läuft dann einfach weiter: Marathon.


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

Die Light-Version der beiden Politiker Bismarck und Thatcher habe ich in meinem nächsten Umfeld erlebt: Ich war dabei als eine Abgeordnete nach über 30 Stunden Arbeit vors Mikrofon trat – und während ihrer Rede schliesslich zusammenbrach. Auch das ist, wie wir wissen, heute keine Seltenheit mehr. Im Gegenteil: Wir wissen, wie rasant Burnout-Erkrankungen zunehmen.

Jahre später war ich (fast) täglich in Bundestagsbüros, im Politischen Presseclub und in Ministerien. Als wir einmal an einer Rede arbeiteten und ich erst um vier morgens das Bundestagsbüro verliess, war ich nicht erstaunt, dass in anderen Büros noch ernsthaft gearbeitet wurde – und in wieder anderen Büros die Arbeit schon begonnen hatte. Es gab kein Zeitgefühl. Gab es ein Schmerzgefühl? Ich erinnere mich nicht daran.

Ob diese Menschen gelitten haben? Ich weiss es nicht. Wir haben nie darüber gesprochen. Ich habe es nie erlebt. Richtig gelitten haben sie allerdings, wenn sie nicht arbeiten durften. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, wenn ich sagen würde: Workaholiker.

Sie verstanden ihre Visionen als Herausforderung, als Ziel, das sie unbeirrt erreichen wollten. Sie mussten nicht. Sie wollten. Sie kämpften für eine – in ihren Augen – bessere Welt: Chancengerechtigkeit, Bildung, Umwelt.

Es ist wie Du sagst: „Ich glaube, das ist nicht nur für Hochbegabte typisch. Diejenigen, die auf Pflicht, Verantwortung und Leistung orientiert sind, nehmen auch Schwierigkeiten auf sich.“

Und da sie in ihrem Leben erlebt hatten, dass sie kleine Probleme spielend lösen konnten, wagten sie sich an immer grössere Themen und Herausforderungen. Gedankliche Quantensprünge – das war ihr Leben. Gleichwohl blieb immer noch (ein wenig) Zeit für Freunde, Theater, Reisen – tauchen, wandern, Marmelade einkochen. Nicht immer ein glückliches – aber ein erfülltes Leben.

Erfüllung. Das ist mehr als sich die meisten anderen Menschen, die ich kenne,  erlauben.

Ich danke Dir für den Gedanken des Klagens: „Lassen wir doch unsere Coachees einfach mal klagen! Sie brauchen das, denn auch sie leiden, nicht nur in ihrer Einbildung.“ Ich denke auch, dass es wichtig ist, erst einmal zuzuhören. Einfach reden lassen und zuhören. Aufmerksam sein. Und schauen, wann es möglich ist, selbst zu reden. Geduld haben.

Einfach reden lassen und zuhören – das habe ich auch jetzt auf meiner Auslandsreise erlebt. Dort habe ich besondere Menschen getroffen. Und die Gespräche mit ihnen durchwandern noch immer meinen Geist. Mit zwei Wissenschaftlern teilten wir die Mahlzeiten. Einer von ihnen ist Literaturprofessor – Lessing, Goethe, Schiller – Tolstoi und Dostojewski. Ich hatte viele Fragen – und bekam Antworten. Beim Abschied gab es eine Bitte an mich. Noch während er geheimnisvoll sprach, fragte ich mich: Welche BITTE? Literatur?! Ein Leckerbissen? Ein Fundstück? Ein Geheimnis?

Er sah meine Fragen in den Augen und wiederholte: Er habe eine Bitte an mich. Na, das muss ja wohl etwas ganz besonderes sein! Mein Goethe-Herz frohlockte … „Meine Bitte: Beten Sie.“ (Wie bitte? Beten? Beten? Beten?) Er wiederholte: „Meine Bitte: Beten Sie für alle verzweifelten Menschen.“


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

Liebe Karin, ich bin sicher, dass Du wieder ein atemberaubendes Mensa-Wochenende - Jahrestreffen in Münster – gehabt hast. Ich freue mich schon jetzt auf Deinen Bericht. Und ich wünsche Dir hinreissende Tänzer beim TANZ IN DEN MAI!

Alles Liebe,
sei umarmt,
Deine Lilli

  
1 Margaret Thatcher
2 Trauerfeier für Margaret Thatcher: Letzter Gruß von Enkelin Amanda
3 Der Spiegel 1950: Auch ein verlorener Sohn
4 a.a.O.
5 „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!”: Bismarck spricht zum Reichstag (6. Februar 1888)
6 Der Spiegel 1950: Auch ein verlorener Sohn
7 a.a.O.
8 a.a.O.
9 a.a.O.
10 „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!”: Bismarck spricht zum Reichstag (6. Februar 1888)
12 a.a.O.
13 a.a.O.
14 a.a.O.
15 Der Spiegel 1950: Auch ein verlorener Sohn
16 Krieg um die Falklands: Thatchers wichtigste Schlacht
17 FAZ
18 Weber, Max: Politik als Beruf. München und Leipzig: Duncker & Humblot, 1919, S. 66