Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Sonntag, 3. März 2013

Wie meine Freundin mit Freude der Problem-Falle entkommen ist


Liebe Lilli,

herzlichen Dank für Deine vielen schönen Anregungen, die wunderbaren Bilder von Saskia-Marjanna Schulz und die Verweise auf interessante Studien! 

Ich hoffe sehr, dass unsere LeserInnen sich einige davon näher anschauen und sich dadurch auch inspiriert fühlen (und nicht einfach nur meinen, wir wollten durch diese umfangreichen Quellennachweise dubiosen Plagiatsvorwürfen entgehen).

Aber: ich bin vorläufig noch nicht fertig mit dem Thema mehr Pflicht als Neigung und wie Hochbegabte damit um gehen?

Es ist ja auch keine Thema, mit dem man fertig werden muss – aber weiterkommen würde ich damit schon gerne, auch im Interesse unserer Gesprächspartner.

Ich erlebe nämlich häufig, dass Gespräche mit Hochbegabten sehr schnell zu Problem-Diskussionen werden. Ja, es scheint sogar erwünscht zu sein und als besonders sinnvoll angesehen zu werden, aus jedem Gespräche eine tiefgründige Diskussion über die Probleme unserer Welt zu machen. Und besonders beliebt sind scheinbar Gespräche über die eigenen oder die Probleme des Gesprächspartners. Da kann man dann so richtig seine intellektuellen Fähigkeiten glänzen lassen: Problemanalyse, Lösungskompetenz, vermeintlich umfassendes Wissen – wovon das Gegenüber natürlich auch entsprechend aufweisen kann – und dann noch die „gute Tat“: Helfer sein!

Komisch nur, dass all die fantastischen Analysen und Lösungsvorschläge so häufig mit „Ja, aber…“ beantwortet werden! Will der/die nicht geholfen kriegen??? Hat der/die überhaupt die neuesten Studien, Bücher oder Artikel zum Thema gelesen? Oder das super-zutreffende Comedy-Video gesehen? Den „Pabst“ (also die anerkannteste Autorität zum Thema) gehört?

Häufig wird aus solchen Gesprächen ein regelrechter Wettbewerb darüber, wer mehr weiß und deshalb mehr Recht hat. Und in der Regel geht dieser Wettbewerb unentschieden aus – wobei sich jeder als Sieger fühlen kann, weil der/die andere ja nicht mal … xyz … wusste, also nicht ganz so intelligent sein kann, wie man selber. Natürlich denkt man das nur! Es auszusprechen würde ja auch nichts bringen.

Du beschreibst sehr schön, wie wir durch das Überangebot an Informationen einerseits überfordert und gestresst werden, andererseits aber sehr gut Bescheid wissen: wir lesen „…die Newsletter von einem halben Dutzend Medien, haben nebenher n-tv oder N24 eingeschaltet – manchmal auf einem weiteren TV-Gerät auch noch BBC oder CNN. Und wir lassen uns die BREAKING NEWS per SMS schicken, ... kennen stets die aktuellen Börsendaten und behalten den Überblick, wer wo im Sport soeben gewonnen hat … Wir sind Weltbürger und wissen Bescheid.“

Nun ja, Fernsehen ist bei vielen Hochbegabten eher out, sogar ziemlich verpönt. Und gedruckte Zeitungen werden auch weniger gelesen, online erfährt man ohnehin immer das Wichtigste. Und dort findet man auch am ehesten das Besondere – die Quellen für das, was mich interessiert, scheinen unerschöpflich.
Für Neugier gibt es also ausreichend Futter. Wir haben gar nicht genug Zeit, alles zu nutzen. Ständig haben wir das Gefühl, ganz Entscheidendes zu verpassen. Und schon ist der Stress wieder da: Noch mehr, noch schneller, noch aktueller, tiefer, breiter informiert zu sein – das ist einfach nicht machbar! Wir stoßen an unsere Grenzen. Und haben endlich wieder ein Problem, über das zu diskutieren lohnt. Und über das jeder mitreden kann. Und will.

Ketzerisch ausgedrückt: Problemlöser brauchen Probleme, und die kriegen sie, egal wie!!!

Diese Falle stellen wir uns immer wieder selbst: Klagen, stöhnen, jammern – und als Begründung Probleme vor uns selbst und vor anderen ausbreiten.




Foto 1 Probleme finden sich überall und immer
Foto: DR. KARIN RASMUSSEN

Dabei wird unsere Neugier schnell zur Versuchung: Müssen/Wollen wir vielleicht aus Neugier Probleme wälzen? Sind wir - wie Du schreibst – „zunehmend zu Bildungspolitikern geworden (ganz zu schweigen von ADHS-ADS-Gelehrten), für unsere Gross-/Eltern immer öfter zu Gesundheitsexperten“ – aus Neugier? Managen wir unsere Love Story, unsere Karriere, unseren täglichen Lebensablauf, unsere Hobbys, unseren Urlaub – um unsere Problemlösungskompetenz unter Beweis zu stellen?
Um zu zeigen, was wir „drauf haben“?
Sind wir wirklich zu all dem gezwungen?
MÜSSEN wir all das tatsächlich tun und sein?

Oder tun wir das alles einfach nur, weil es eben geht? Weil es für all diese Aufgaben und Themen immer bessere Möglichkeiten gibt, sich zu informieren, mitzureden, sich einzumischen?

Und weil wir einen „entgangenen Vorteil“ befürchten, wenn wir es nicht tun? Besonders bei den Eltern hochbegabter Kinder kann man diesen Eindruck leicht gewinnen: sie wollen für ihre Kinder die bestmöglichen Entwicklungschancen und fühlen sich schuldig, wenn sie diese nicht wahrnehmen können.

Wir könnten täglich so viele Dinge tun – und könnten damit so viel erreichen, wenn …
… wir genau wüssten,
was es bringt
ob es sich lohnt
ob wir es schaffen
ob wir nicht etwas „Besseres“ verpassen!

Mir gefällt sehr, wie Stefan Frädrich (1) zum rechtzeitigen Scheitern auffordert! Für mich verbirgt sich dahinter die bewusste Entscheidung, sich mit bestimmten Problemen NICHT zu befassen, auch wenn es möglich wäre. Bewusst auf das Wissen und Können von Spezialisten zu vertrauen, auch wenn ich mir selbst mehr Wissen aneignen könnte (und ihnen dann Paroli bieten dürfte?). Der Aufwand, den ich treiben müsste, um immer und überall gut zu sein und  ernsthaft mitreden zu können, wäre viel zu hoch. Ganz abgesehen davon, ob es mir Vergnügen bereiten würde, ob ich damit glücklicher wäre. Und auch abgesehen davon, ob ich oder irgendjemand es brauchen könnte. Wunderbar, wie er den Begriff der „Opportunitätskosten“ (2) (gemeint ist der fiktive Verlust durch ungenutzte Chancen) auf ganz alltägliche Entscheidungen überträgt.

Ich wünsche mir für unsere hochbegabten Coachees manchmal ein früheres Scheitern bzw. rechtzeitige, also frühe Probleme. Sie würden dann nicht so häufig dem Irrtum unterliegen, dass sie etwas leicht und schnell Gelerntes nun auch „können“. Sie würden nicht hoffen, damit Erfolg zu haben. Und sie würden früher aufhören mit Bemühungen, die sie nicht weiter bringen. Durch rechtzeitiges Scheitern hätten sie die Chance zum Umdenken auf die Frage: Was hat mir besonders lange und viel Spaß gemacht weil es nachhaltig Erfolg brachte?

Und dann könnten sie den für ihre Persönlichkeit so wichtigen sozialen Aspekt dieses Erfolges kritisch analysieren:

Bestand dieser Erfolg aus einem kontinuierlichen Prozess von
  • Zuwendung, anschließender Akzeptanz,  darauf beruhender Anerkennung, wachsendem Respekt, damit verbundener partnerschaftlicher Kooperation, motivierender Forderung nach mehr, angemessener finanzieller Vergütung und zusätzlicher Förderung


oder aber
  • folgte auf Zuwendung herablassende Akzeptanz (von Dir habe ich nichts anderes erwartet), anmaßende Forderung nach mehr (für Dich ist das keine Mühe), emotionale Erpressung (ich denke Du bist hochbegabt?)  am Ende die institutionalisierte Ausbeutung (wozu bist Du denn hochbegabt?)

Wenn der Erfolg gar kein echter Erfolg gewesen ist, sondern eher ihr Selbstbewusstsein beschädigt hat, dann lohnt sich keine weitere Mühe. Dann ist es auch nicht mehr sinnvoll, durch Anstrengung und Durchhalten doch noch beweisen zu wollen, dass die Hochbegabung zu beinahe allem befähigt. Oder sogar den anderen Vorwürfe wegen ihrer Ignoranz zu machen. Sie der Intoleranz oder der Gemeinheit zu bezichtigen. Das alles kostet Energie, schafft neue Probleme und macht nicht erfolgreicher. Denn trotz Hochbegabung hat jede Persönlichkeit ja ihre individuellen Interessen und Stärken, auf die man bauen kann und die sich zu entwickeln lohnt – und manche Schwäche! Aber um die eigenen Stärken zu erkennen, nützt der permanente Wettbewerb mit allen und jedem herzlich wenig!

Dafür ist es viel sinnvoller, wie schon Dein Psychologie-Kollege (und nicht nur der!) gefordert hat, immer wieder „Frei-Stunden und freie Tage einzulegen. Um in die Stille zu gehen. Um wieder zu uns selbst zu kommen.“ Also sich selbst loszulassen, sich die Freiheit zu nehmen für Spaß und Freude, sich etwas Gutes zu tun – einfach weil es gut tut!




Foto 2 Stille-Mitten in Berlin
Foto: DR. KARIN RASMUSSEN

Ich habe da ein paar tolle Vorbilder, wie meine Freundinnen der Problemfalle entkommen. Sie tun was Spaß macht, wann immer es geht. Auch wenn sie statt dessen gerade etwas viel Wichtigeres/Sinnvolleres tun könnten! Eine von ihnen war Silvester mit mir unterwegs – eigentlich schon Neujahr, ein Sektglas in der Hand, den Beutel mit den Stiefeln in der anderen (zum „vernünftigen“ Umziehen waren wir zu faul) im Berliner Untergrund zwischen U-und S-Bahn inmitten eines Stromes fröhlich feiernder Massen. Und plötzlich: ein Urschrei! Das pure Glück schrie aus dieser erfolgreichen Führungskraft, Mutter erwachsener Kinder und gerade wieder Fernstudentin. Worüber sie so glücklich war, dass sie einfach schreien musste? Nun, sie war in Berlin! Silvester! Die größte Party in Deutschland! Mitten drin – ihr Schrei übertönte den allgemeinen Lärm nur für wenige Sekunden, dann wurde er beantwortet! Wie mir schien: Tausendfach. Sie war nicht allein. Es gab viele, die genau in diesem Augenblick genau das Gleiche fühlten wie sie. Und es war ganz unwichtig, wer sie war, was sie wusste, wie sie aussah. Grandios!

So ähnlich habe ich mich auf dem Dach des Mailänder Doms gefühlt: Neben der stillen Freude am Schönen hat mich eine tiefe Dankbarkeit für das Können der vielen Meister erfüllt, die uns solche grandiosen Schätze schaffen und erhalten. Ich war ergriffen vom Glück.

Eine andere Freundin ist begeisterte Ballettliebhaberin. Sie ist weder jung noch hat sie die Voraussetzungen zur professionellen Tänzerin je gehabt, eher im Gegenteil. Aber sie liebt das Ballett. Und weil sie beruflich verantwortlich ist, sich um die kulturellen Belange einer mittelgroßen Stadt in Mitteldeutschland zu kümmern, hat sie natürlich auch hier mit Tänzern, Choreografen, Intendanten usw. zu tun. Ganz begeistert erzählte sie mir kürzlich, dass sie zu einer Ballettprobe eingeladen war und mittanzen durfte. Sie war Gast, sie wird nicht auf der Bühne stehen, die Tänzer sind ihr haushoch überlegen – aber sie hat mit ihnen gemeinsam getanzt und war glücklich! Und das besonders Schöne: die Künstler fühlten sich respektiert und anerkannt, weil mal ein „Funktionär“ sich von ihrer schweren Probenarbeit einen ganz persönlichen Eindruck verschafft hatte! Meine Freundin war so glücklich, dass sie mich gleich anrufen und davon berichten musste. Natürlich wusste sie um ihre tänzerische Unvollkommenheit – sie konnte gemeinsam mit den Künstlern darüber lachen. Aber es war ein Lachen ohne Häme über sich selbst, über eigenes Scheitern, in dem schon der nächste Erfolg steckt.




Foto 3 Freude am Schönen
Foto: DR. KARIN RASMUSSEN

Liebe Lilli, ich bin Dir so dankbar für Deinen Hinweis auf die Forschung von Willibald Ruch und seinen Kollegen (3)! „Wer Neugier, Dankbarkeit, Optimismus, Humor und Enthusiasmus, Kreativität, Sinn für das Schöne, Freundlichkeit, Liebe zum Lernen und Weitsicht regelmäßig übt, steigert sein geistiges Wohlbefinden.“ Toll! Super! Endlich mal ein Programm was nicht nach Problemen, sondern nach Spaß und Freude klingt! Und die Forscher konnten auch nachweisen, dass „vor allem jene Personen profitierten, die im Verlauf der Trainingszeit sowohl ihre Handlungen und Gefühle besser steuern lernten, als auch mehr Enthusiasmus entwickelt hatten.“ Auch Hochbegabte dürfen und sollten zuerst sich selbst verpflichtet sein.

Der Volksmund sagt „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und meint: Bring für Dein eigenes Glück selbst die größte Mühe auf, tu für Dich selbst auch das Schwierige. Der „Schmied“ hat also einen schweren Beruf, der macht auch mal müde. Also hast Du die Pausen verdient und die Glücksmomente! Aber auch die musst Du Dir selbst „organisieren“! Du kannst nicht erwarten, dass die Gesellschaft, Dein Chef, die Kollegen, die Familie oder Deine Freunde Dir dieses Glück gefälligst liefern.

Du musst Dich selbst aufwecken, statt wie viele Hochbegabte es leider tun, als „Dornröschen“ 100 Jahre zu warten und zu träumen, dass ein schöner Prinz kommt und Dich wachküsst. (4)  Dann wirst Du sehen: Auch Du kannst wie Goethes Iphigenie über Dich hinauswachsen. Erst nach schweren Kämpfen und Katharsis wächst sie, die einst dem Tod geweiht war,  zu ihrer wahren Größe. Du selbst musst wahrscheinlich gar nicht so dramatische Leiden ertragen und Gefahren überstehen wie Iphigenie. Du wirst vielleicht nie einem anderen das Leben retten müssen. Aber für Deine eigene Rettung kannst und musst  Du etwas tun: Deine besten Eigenschaften erkennen und stärken.

Soweit der Volksmund. Und nun liefert auch noch die Wissenschaft den Beweis, dass das geht.

Liebe Lilli, Dein sympathischer Vorschlag, das Lachen zu steigern kann noch ergänzt werden – denn Hochbegabte können ja auch komplex vorgehen: Wenn sie sich z.B. zunächst nach dem Vorbild der Schweizer Wissenschaftler ein Stärken-Profil erstellen:

Wie stark bin ich auf einer Skala von 1-10 in folgenden Eigenschaften
(1 = ganz schwach, 10 = ganz stark)



·         Neugier
·         Dankbarkeit
·         Optimismus
·         Humor
·         Enthusiasmus
·         Kreativität
·         Sinn für das Schöne
·         Freundlichkeit
·         Liebe zum Lernen
·         Weitsicht


Das ist gar nicht so schwierig, denn hier geht es ja nicht um Leistungsbeurteilung und nicht um Fähigkeiten oder Kenntnisse – sondern um ganz normale menschliche Eigenschaften.

Zu diesen Fragen können sie dann auch noch Freunde, Kollegen, Verwandte in einem entspannten Augenblick um Antwort bitten. Sie werden sich vielleicht nicht über jede Antwort freuen können – aber sie werden Chancen erkennen!
Und dann ein Trainingsprogramm aufstellen, mit dem sie jeden Tag ein bisschen glücklicher und stärker werden können. Dann wird die Freude riesengroß – immer mal wieder.




Foto 4 Land in Sicht
Foto: DR. KARIN RASMUSSEN (5)

Liebe Lillii, jetzt ist die Faschingszeit vorbei und Ostern steht uns bevor – und es wird Frühling! Bei uns scheint schon gelegentlich die Sonne durch das ewige Berliner Grau. Das macht alles gleich viel fröhlicher.
Ich wünsche Dir für jeden Tag mindestens einen Augenblick der Stille und eine gute Nachricht – damit Dir der Frohsinn erhalten bleibt.
Sei umarmt

Deine Karin

5 DR. KARIN RASMUSSEN http://www.icfl.de/HomePage