Liebe
Lilli,
herzlichen
Dank für Deine vielen schönen Anregungen, die wunderbaren Bilder von
Saskia-Marjanna Schulz und die Verweise auf interessante Studien!
Ich hoffe
sehr, dass unsere LeserInnen sich einige davon näher anschauen und sich dadurch
auch inspiriert fühlen (und nicht einfach nur meinen, wir wollten durch diese
umfangreichen Quellennachweise dubiosen Plagiatsvorwürfen entgehen).
Aber:
ich bin vorläufig noch nicht fertig mit dem Thema mehr Pflicht als Neigung und
wie Hochbegabte damit um gehen?
Es
ist ja auch keine Thema, mit dem man fertig werden muss – aber weiterkommen
würde ich damit schon gerne, auch im Interesse unserer Gesprächspartner.
Ich erlebe
nämlich häufig, dass Gespräche mit Hochbegabten sehr schnell zu
Problem-Diskussionen werden. Ja, es scheint sogar erwünscht zu sein und als
besonders sinnvoll angesehen zu werden, aus jedem Gespräche eine tiefgründige
Diskussion über die Probleme unserer Welt zu machen. Und besonders beliebt sind
scheinbar Gespräche über die eigenen oder die Probleme des Gesprächspartners.
Da kann man dann so richtig seine intellektuellen Fähigkeiten glänzen lassen:
Problemanalyse, Lösungskompetenz, vermeintlich umfassendes Wissen – wovon das Gegenüber
natürlich auch entsprechend aufweisen kann – und dann noch die „gute Tat“:
Helfer sein!
Komisch
nur, dass all die fantastischen Analysen und Lösungsvorschläge so häufig mit
„Ja, aber…“ beantwortet werden! Will der/die nicht geholfen kriegen??? Hat der/die
überhaupt die neuesten Studien, Bücher oder Artikel zum Thema gelesen? Oder das
super-zutreffende Comedy-Video gesehen? Den „Pabst“ (also die anerkannteste
Autorität zum Thema) gehört?
Häufig wird
aus solchen Gesprächen ein regelrechter Wettbewerb darüber, wer mehr weiß und
deshalb mehr Recht hat. Und in der Regel geht dieser Wettbewerb unentschieden
aus – wobei sich jeder als Sieger fühlen kann, weil der/die andere ja nicht mal
… xyz … wusste, also nicht ganz so intelligent sein kann, wie man selber.
Natürlich denkt man das nur! Es auszusprechen würde ja auch nichts bringen.
Du
beschreibst sehr schön, wie wir durch das Überangebot an Informationen
einerseits überfordert und gestresst werden, andererseits aber sehr gut
Bescheid wissen: wir lesen „…die Newsletter von einem halben Dutzend Medien,
haben nebenher n-tv oder N24 eingeschaltet – manchmal auf einem weiteren
TV-Gerät auch noch BBC oder CNN. Und wir lassen uns die BREAKING NEWS per SMS
schicken, ... kennen stets die aktuellen Börsendaten und behalten den
Überblick, wer wo im Sport soeben gewonnen hat … Wir sind Weltbürger und wissen
Bescheid.“
Nun
ja, Fernsehen ist bei vielen Hochbegabten eher out, sogar ziemlich verpönt. Und
gedruckte Zeitungen werden auch weniger gelesen, online erfährt man ohnehin
immer das Wichtigste. Und dort findet man auch am ehesten das Besondere – die
Quellen für das, was mich interessiert, scheinen unerschöpflich.
Für Neugier
gibt es also ausreichend Futter. Wir haben gar nicht genug Zeit, alles zu
nutzen. Ständig haben wir das Gefühl, ganz Entscheidendes zu verpassen. Und
schon ist der Stress wieder da: Noch mehr, noch schneller, noch aktueller,
tiefer, breiter informiert zu sein – das ist einfach nicht machbar! Wir stoßen
an unsere Grenzen. Und haben endlich wieder ein Problem, über das zu
diskutieren lohnt. Und über das jeder mitreden kann. Und will.
Ketzerisch
ausgedrückt: Problemlöser brauchen Probleme, und die kriegen sie, egal wie!!!
Diese Falle
stellen wir uns immer wieder selbst: Klagen, stöhnen, jammern – und als
Begründung Probleme vor uns selbst und vor anderen ausbreiten.
Foto
1 Probleme finden sich überall und immer
Foto: DR. KARIN
RASMUSSEN
Dabei
wird unsere Neugier schnell zur Versuchung: Müssen/Wollen wir vielleicht aus
Neugier Probleme wälzen? Sind wir - wie Du schreibst – „zunehmend zu
Bildungspolitikern geworden (ganz zu schweigen von ADHS-ADS-Gelehrten), für
unsere Gross-/Eltern immer öfter zu Gesundheitsexperten“ – aus Neugier? Managen wir unsere Love Story, unsere Karriere,
unseren täglichen Lebensablauf, unsere Hobbys, unseren Urlaub – um unsere
Problemlösungskompetenz unter Beweis zu stellen?
Um
zu zeigen, was wir „drauf haben“?
Sind wir
wirklich zu all dem gezwungen?
MÜSSEN wir
all das tatsächlich tun und sein?
Oder tun
wir das alles einfach nur, weil es eben geht? Weil es für all diese Aufgaben
und Themen immer bessere Möglichkeiten gibt, sich zu informieren, mitzureden,
sich einzumischen?
Und weil
wir einen „entgangenen Vorteil“ befürchten, wenn wir es nicht tun? Besonders
bei den Eltern hochbegabter Kinder kann man diesen Eindruck leicht gewinnen:
sie wollen für ihre Kinder die bestmöglichen Entwicklungschancen und fühlen
sich schuldig, wenn sie diese nicht wahrnehmen können.
Wir könnten
täglich so viele Dinge tun – und könnten damit so viel erreichen, wenn …
… wir genau
wüssten,
was es
bringt
ob es sich
lohnt
ob wir es
schaffen
ob wir
nicht etwas „Besseres“ verpassen!
Mir gefällt
sehr, wie Stefan Frädrich (1) zum rechtzeitigen Scheitern auffordert! Für mich
verbirgt sich dahinter die bewusste Entscheidung, sich mit bestimmten Problemen
NICHT zu befassen, auch wenn es möglich wäre. Bewusst auf das Wissen und Können
von Spezialisten zu vertrauen, auch wenn ich mir selbst mehr Wissen aneignen
könnte (und ihnen dann Paroli bieten dürfte?). Der Aufwand, den ich treiben müsste,
um immer und überall gut zu sein und ernsthaft mitreden zu können, wäre viel zu
hoch. Ganz abgesehen davon, ob es mir Vergnügen bereiten würde, ob ich damit
glücklicher wäre. Und auch abgesehen davon, ob ich oder irgendjemand es
brauchen könnte. Wunderbar, wie er den Begriff der „Opportunitätskosten“ (2) (gemeint
ist der fiktive Verlust durch ungenutzte Chancen) auf ganz alltägliche
Entscheidungen überträgt.
Ich wünsche
mir für unsere hochbegabten Coachees manchmal ein früheres Scheitern bzw. rechtzeitige,
also frühe Probleme. Sie würden dann nicht so häufig dem Irrtum unterliegen,
dass sie etwas leicht und schnell Gelerntes nun auch „können“. Sie würden nicht
hoffen, damit Erfolg zu haben. Und sie würden früher aufhören mit Bemühungen,
die sie nicht weiter bringen. Durch rechtzeitiges Scheitern hätten sie die
Chance zum Umdenken auf die Frage: Was hat mir besonders lange und viel Spaß
gemacht weil es nachhaltig Erfolg brachte?
Und dann
könnten sie den für ihre Persönlichkeit so wichtigen sozialen Aspekt dieses Erfolges
kritisch analysieren:
Bestand
dieser Erfolg aus einem kontinuierlichen Prozess von
- Zuwendung, anschließender Akzeptanz, darauf beruhender Anerkennung, wachsendem Respekt, damit verbundener partnerschaftlicher Kooperation, motivierender Forderung nach mehr, angemessener finanzieller Vergütung und zusätzlicher Förderung
oder aber
- folgte auf Zuwendung herablassende Akzeptanz (von Dir habe ich nichts anderes erwartet), anmaßende Forderung nach mehr (für Dich ist das keine Mühe), emotionale Erpressung (ich denke Du bist hochbegabt?) am Ende die institutionalisierte Ausbeutung (wozu bist Du denn hochbegabt?)
Wenn der
Erfolg gar kein echter Erfolg gewesen ist, sondern eher ihr Selbstbewusstsein
beschädigt hat, dann lohnt sich keine weitere Mühe. Dann ist es auch nicht mehr
sinnvoll, durch Anstrengung und Durchhalten doch noch beweisen zu wollen, dass
die Hochbegabung zu beinahe allem befähigt. Oder sogar den anderen Vorwürfe
wegen ihrer Ignoranz zu machen. Sie der Intoleranz oder der Gemeinheit zu
bezichtigen. Das alles kostet Energie, schafft neue Probleme und macht nicht
erfolgreicher. Denn trotz Hochbegabung hat jede Persönlichkeit ja ihre
individuellen Interessen und Stärken, auf die man bauen kann und die sich zu
entwickeln lohnt – und manche Schwäche! Aber um die eigenen Stärken zu
erkennen, nützt der permanente Wettbewerb mit allen und jedem herzlich wenig!
Dafür ist
es viel sinnvoller, wie schon Dein Psychologie-Kollege (und nicht nur der!)
gefordert hat, immer wieder „Frei-Stunden und freie Tage einzulegen. Um in die
Stille zu gehen. Um wieder zu uns selbst zu kommen.“ Also sich selbst loszulassen,
sich die Freiheit zu nehmen für Spaß und Freude, sich etwas Gutes zu tun –
einfach weil es gut tut!
Foto
2 Stille-Mitten in Berlin
Foto: DR. KARIN
RASMUSSEN
Ich habe da
ein paar tolle Vorbilder, wie meine Freundinnen der Problemfalle entkommen. Sie
tun was Spaß macht, wann immer es geht. Auch wenn sie statt dessen gerade etwas
viel Wichtigeres/Sinnvolleres tun könnten! Eine von ihnen war Silvester mit mir
unterwegs – eigentlich schon Neujahr, ein Sektglas in der Hand, den Beutel mit
den Stiefeln in der anderen (zum „vernünftigen“ Umziehen waren wir zu faul) im
Berliner Untergrund zwischen U-und S-Bahn inmitten eines Stromes fröhlich
feiernder Massen. Und plötzlich: ein Urschrei! Das pure Glück schrie aus dieser
erfolgreichen Führungskraft, Mutter erwachsener Kinder und gerade wieder
Fernstudentin. Worüber sie so glücklich war, dass sie einfach schreien musste?
Nun, sie war in Berlin! Silvester! Die größte Party in Deutschland! Mitten drin
– ihr Schrei übertönte den allgemeinen Lärm nur für wenige Sekunden, dann wurde
er beantwortet! Wie mir schien: Tausendfach. Sie war nicht allein. Es gab
viele, die genau in diesem Augenblick genau das Gleiche fühlten wie sie. Und es
war ganz unwichtig, wer sie war, was sie wusste, wie sie aussah. Grandios!
So ähnlich
habe ich mich auf dem Dach des Mailänder Doms gefühlt: Neben der stillen Freude
am Schönen hat mich eine tiefe Dankbarkeit für das Können der vielen Meister
erfüllt, die uns solche grandiosen Schätze schaffen und erhalten. Ich war
ergriffen vom Glück.
Eine andere
Freundin ist begeisterte Ballettliebhaberin. Sie ist weder jung noch hat sie
die Voraussetzungen zur professionellen Tänzerin je gehabt, eher im Gegenteil.
Aber sie liebt das Ballett. Und weil sie beruflich verantwortlich ist, sich um
die kulturellen Belange einer mittelgroßen Stadt in Mitteldeutschland zu
kümmern, hat sie natürlich auch hier mit Tänzern, Choreografen, Intendanten
usw. zu tun. Ganz begeistert erzählte sie mir kürzlich, dass sie zu einer
Ballettprobe eingeladen war und mittanzen durfte. Sie war Gast, sie wird nicht
auf der Bühne stehen, die Tänzer sind ihr haushoch überlegen – aber sie hat mit
ihnen gemeinsam getanzt und war glücklich! Und das besonders Schöne: die
Künstler fühlten sich respektiert und anerkannt, weil mal ein „Funktionär“ sich
von ihrer schweren Probenarbeit einen ganz persönlichen Eindruck verschafft
hatte! Meine Freundin war so glücklich, dass sie mich gleich anrufen und davon
berichten musste. Natürlich wusste sie um ihre tänzerische Unvollkommenheit –
sie konnte gemeinsam mit den Künstlern darüber lachen. Aber es war ein Lachen
ohne Häme über sich selbst, über eigenes Scheitern, in dem schon der nächste
Erfolg steckt.
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3 Freude am Schönen
Foto: DR. KARIN
RASMUSSEN
Liebe
Lilli, ich bin Dir so dankbar für Deinen Hinweis auf die Forschung von
Willibald Ruch und seinen Kollegen (3)! „Wer Neugier, Dankbarkeit, Optimismus,
Humor und Enthusiasmus, Kreativität, Sinn für das Schöne, Freundlichkeit,
Liebe zum Lernen und Weitsicht regelmäßig übt, steigert sein
geistiges Wohlbefinden.“ Toll! Super! Endlich mal ein Programm was nicht nach
Problemen, sondern nach Spaß und Freude klingt! Und die Forscher konnten auch
nachweisen, dass „vor allem jene Personen profitierten, die im Verlauf
der Trainingszeit sowohl ihre Handlungen und Gefühle besser steuern lernten,
als auch mehr Enthusiasmus entwickelt hatten.“ Auch Hochbegabte
dürfen und sollten zuerst sich selbst verpflichtet sein.
Der
Volksmund sagt „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und meint: Bring für Dein
eigenes Glück selbst die größte Mühe auf, tu für Dich selbst auch das
Schwierige. Der „Schmied“ hat also einen schweren Beruf, der macht auch mal
müde. Also hast Du die Pausen verdient und die Glücksmomente! Aber auch die
musst Du Dir selbst „organisieren“! Du kannst nicht erwarten, dass die
Gesellschaft, Dein Chef, die Kollegen, die Familie oder Deine Freunde Dir
dieses Glück gefälligst liefern.
Du musst Dich
selbst aufwecken, statt wie viele Hochbegabte es leider tun, als „Dornröschen“
100 Jahre zu warten und zu träumen, dass ein schöner Prinz kommt und Dich
wachküsst. (4) Dann wirst Du sehen: Auch
Du kannst wie Goethes Iphigenie über Dich hinauswachsen. Erst nach schweren
Kämpfen und Katharsis wächst sie, die einst dem Tod geweiht war, zu ihrer wahren Größe. Du selbst musst
wahrscheinlich gar nicht so dramatische Leiden ertragen und Gefahren überstehen
wie Iphigenie. Du wirst vielleicht nie einem anderen das Leben retten müssen.
Aber für Deine eigene Rettung kannst und musst
Du etwas tun: Deine besten Eigenschaften erkennen und stärken.
Soweit der
Volksmund. Und nun liefert auch noch die Wissenschaft den Beweis, dass das
geht.
Liebe Lilli, Dein sympathischer Vorschlag, das
Lachen zu steigern kann noch ergänzt werden – denn Hochbegabte können ja auch
komplex vorgehen: Wenn sie sich z.B. zunächst nach dem Vorbild der Schweizer
Wissenschaftler ein Stärken-Profil erstellen:
Wie stark bin ich auf einer Skala von 1-10 in
folgenden Eigenschaften
(1 = ganz schwach, 10 = ganz stark)
·
Neugier
·
Dankbarkeit
·
Optimismus
·
Humor
·
Enthusiasmus
·
Kreativität
·
Sinn für das Schöne
·
Freundlichkeit
·
Liebe zum Lernen
·
Weitsicht
Das ist gar
nicht so schwierig, denn hier geht es ja nicht um Leistungsbeurteilung und
nicht um Fähigkeiten oder Kenntnisse – sondern um ganz normale menschliche
Eigenschaften.
Zu diesen
Fragen können sie dann auch noch Freunde, Kollegen, Verwandte in einem
entspannten Augenblick um Antwort bitten. Sie werden sich vielleicht nicht über
jede Antwort freuen können – aber sie werden Chancen erkennen!
Und dann
ein Trainingsprogramm aufstellen, mit dem sie jeden Tag ein bisschen glücklicher
und stärker werden können. Dann wird die Freude riesengroß – immer mal wieder.
Foto
4 Land in Sicht
Foto: DR. KARIN
RASMUSSEN (5)
Liebe
Lillii, jetzt ist die Faschingszeit vorbei und Ostern steht uns bevor – und es
wird Frühling! Bei uns scheint schon gelegentlich die Sonne durch das ewige
Berliner Grau. Das macht alles gleich viel fröhlicher.
Ich wünsche
Dir für jeden Tag mindestens einen Augenblick der Stille und eine gute
Nachricht – damit Dir der Frohsinn erhalten bleibt.
Sei umarmt
Deine Karin
5 DR. KARIN RASMUSSEN http://www.icfl.de/HomePage