Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

Translate

Sonntag, 8. Dezember 2013

Ein Glück, dass es DICH gibt

Liebe Lilli,

Danke, dass Du uns alle an DAS Dauerthema schlechthin erinnert hast: Glück! Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit und zum Jahreswechsel hin wünschen wir uns das besonders oft auch gegenseitig. 

„Fröhliche Weihnachten und ein glückliches Neues Jahr“ leuchtet uns von überall entgegen – und wir selbst richten diese gut gemeinten Wünsche an unsere Liebsten, an Freunde, Kollegen und Bekannte, ja sogar an Unbekannte – wie zum Beispiel an unsere stillen Leser. Und das ist auch gut so.
Du hast natürlich Recht: Mancher meint, beim Glück bisher zu kurz gekommen zu sein.

Und natürlich gibt es immer wieder Situationen, in denen wir mehr Unglück als Glück empfinden. Gerade jetzt geht es weltweit vielen Menschen gar nicht gut – sie können nicht so recht glücklich sein: Mit Nelson Mandela  ist einer der ganz Großen von uns gegangen.[1] Und obwohl die Menschheit wirklich glücklich sein könnte, dass es ihn überhaupt gegeben hat, dass er unter uns weilte und die Welt ein wenig besser gemacht hat, will und kann sich Angesichts der Trauer um seinen Tod kein Glücksgefühl einstellen. Aber auch das ist gut. Denn wenn wir Unglück, Trauer oder Leid nicht mehr empfinden würden – was wäre dann das Glück noch wert?


© Karin Rasmussen

Zum Beispiel das Glücksgefühl, das wir über eine richtig gute Nachricht empfinden können: „Ihre schwere Operation ist erfolgreich verlaufen, Sie werden wieder vollständig gesund!“ Wer würde bei dieser Nachricht herum maulen: “Es wäre besser gewesen, wenn ich erst gar nicht krank geworden wäre“? Gerade gestern habe ich eine meiner tapfersten Freundinnen im Krankenhaus besucht. Mit leuchtenden Augen und strahlendem Lächeln begrüßte sie mich vom Krankenbett aus, voller Freude, mir diese gute Nachricht ihres Arztes weitergeben zu können. Du kannst Dir denken, wie froh auch ich sofort war. Ich hatte mir wirklich große Sorgen gemacht, ja richtig Angst um sie gehabt. Wir kennen uns seit fast 20 Jahren. Damals saß sie schon einmal mit leuchtenden Augen vor mir. Es war ein Seminar, bei dem es um die mitreißende Wirkung charismatischer Führungskräfte ging. Die Gruppe war eher skeptisch, ob man solchen „Typen“ vertrauen dürfte. Aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte war diese Skepsis zwar verständlich – nur die Schlussfolgerung, ohne Charisma mehr erreichen zu können,  war ganz offensichtlich auch falsch. Und plötzlich explodierte mitten aus der Gruppe heraus eine kleine zierliche, exotisch aussehende Frau. „Ich weiß genau, was Sie meinen: bei uns in Ägypten haben Frauen keine öffentliche Stimme. Sie werden gar nicht wahrgenommen, stehen im Schatten der Männer und können kaum selbst für ihre Rechte eintreten. Wenn es mutige Frauen gäbe, die öffentlich auftreten würden und so eine mitreißende Ausstrahlung hätten, dann würden bestimmt ganz schnell viele andere Frauen diesem Beispiel folgen. Ich habe hier in Deutschland erlebt, was Frauen bewegen können. Und ich möchte, dass auch in meiner Heimat die Frauen genau so selbstverständlich wie hier eine gute Bildung und qualifizierte gut bezahlte Arbeit bekommen. Und dass sie für sich selber sorgen können. Und ich bin überzeugt, dass wir dafür eigene Vorbilder brauchen. Es muss auch bei uns Frauen geben, die ihr Charisma für mehr einsetzen als nur für die Suche nach einem guten Ehemann. ....“ Als wäre sie vor sich selbst erschrocken, hielt sie inne. Und dann begann die ganze Gruppe praktisch zu toben. Es gab lauten Beifall, begeisterte Zurufe, einige sprangen auf und umarmten sie – wir mussten erst mal eine Pause einlegen.

Als wir unser Seminar dann fortsetzten wurde klar, was alle so mitgerissen hatte. Es war dieser unerwartete Auftritt einer ansonsten eher stillen und unauffälligen Frau – ihr Charisma war sichtbar, spürbar geworden. Sie selbst hatte bis dahin gar nicht gewusst, wie viel Kraft sie ausstrahlte.

Heute bin ich sehr froh darüber, das damals unmittelbar erlebt zu haben. Denn ohne diesen Ausbruch hätten wir uns vielleicht aus den Augen verloren. So aber wurden wir Freundinnen. Und ich konnte miterleben, wie sie im Arabischen Frühling erneut mit leuchtenden Augen und jetzt ganz absichtlich ihre mitreißende Ausstrahlung einsetzte. Für ihre Frauenprojekte in Kairo  hat sie Mitstreiterinnen und auch männliche Mitstreiter gefunden. Mit Hartnäckigkeit und Geduld hat sie Partner und Helfer um sich geschart, die alleinerziehenden Frauen legale Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen. Damit können sie ihren Kindern eine bescheidene Sicherheit bieten. Denn unverheiratete Mütter gelten in Ägypten wenig, egal ob sie verwitwet sind oder verstoßen wurden – wenn sich kein Mann für sie findet, droht ihnen und ihren Kindern das blanke Elend. Sie werden besser akzeptiert, wenn sie mit zum Einkommen der Großfamilie beitragen oder ganz für sich selbst sorgen können.
 

© Karin Rasmussen

Und meine Freundin? Manchem erscheint sie vielleicht gefährlich, wild, unweiblich. Doch das ist sie nicht. Sie ist immer noch zierlich, wunderschön, exotisch. Und sie ist das Vorbild, die Stimme dieser Frauen – sie verhandelt mit Geschäftsleuten, mit Handwerkern und Ärzten, mit jedem, der helfen kann. Sie mobilisiert ihre internationalen Freunde. (Wie wunderbar, liebe Lilli, dass Du schon früher auch von Kairo geträumt hast – eine weitere Gemeinsamkeit zwischen uns!) Und sie lehrt die Frauen Lesen, Rechnen, Selbstbewusstsein und Mut. Sie erklärt ihnen die ägyptische Revolution. Sie hilft ihnen zu verstehen, welche politischen Kräfte sich gegenüberstehen. Und sie engagiert sich für ein demokratisches Ägypten. Das ist zurzeit gar nicht ungefährlich. Es kostet viel Kraft. Leider hat es sie zu viel Kraft gekostet. Sie ist schwer krank geworden. Doch statt sich selbst leid zu tun und ihr Unglück zu beklagen, bedauert sie die Unterbrechung ihrer Arbeit. Und ist glücklich über die gute Nachricht ihres Arztes. Sie sagt mir: „Was für ein Glück, dass ich bald wieder an meine Arbeit kann. Ich will an einer Universität lehren, dafür bessere ich jetzt mein Englisch auf. Wir müssen ja auch international klar machen, was die ägyptische Revolution erreichen will.“ Ich kann sie nur bewundern. Und glücklich sein, so eine Freundin zu haben. Sie ist für mich so etwas wie „mein eigener Nelson Mandela“ – warmherzig, großzügig, selbstlos und gleichzeitig mutig und entschlossen. Wenn ich sie nach ihrem Glück frage, dann berichtet sie mir von ihrer Arbeit, von ihrer Familie und ihren Freunden. Ganz nebenbei erwähnt sie dann auch mal sich selbst und ihre Krankheit, aber nur kurz und nur auf Nachfrage. Sie ist glücklich über das, was sie tut. Ich glaube, dies ist der alles entscheidende Kern von Glück: Nicht was wir „kriegen“, sondern was wir bewusst geben können, macht uns glücklich. Das ist ja auch so eine uralte (Bibel-) Weisheit: Geben ist seliger denn Nehmen![2] Und meine Freundin gibt mir viel Kraft. Sie stärkt meinen Glauben daran, dass es viele gute Menschen gibt in der Welt, die für andere da sind und die froh sind, anderen etwas geben zu können.


© für das Foto über Karin Rasmussen[3]

Denn jeder von uns hat etwas zu geben! Allerdings glauben das leider viele Menschen noch nicht: Sie glauben es nicht von sich selbst und sie glauben es nicht von anderen. Du schreibst: „Viel zu viele Menschen laufen noch mit viel zu vielen Sorgen, Ängsten und Nöten durch die Welt – und wollen sich nicht helfen lassen.“ Warum wollen sie das nicht: Weil sie glauben, es gäbe keine Hilfe? Oder weil sie glauben, niemand wäre bereit zu helfen? Oder gar deshalb, weil sie niemandem mehr zutrauen als sich selbst – wenn ich selbst meine Probleme nicht lösen kann, dann kann das niemand? Du hast völlig Recht: Für viele Menschen gibt es diesen „inneren Link: UNERREICHBAR“! Das ist sehr schade, denn oft verbirgt sich dahinter nur so etwas wie Vergesslichkeit. Die Menschen vergessen einfach, was alles sie schon erreicht haben! Und es ist immer lohnend, sie daran zu erinnern. Ihnen bewusst zu machen, wie viel Kraft in ihnen steckt und wie viele Helfer es für sie gibt. Deine Erinnerung an Claudia, die Juristin aus München und ihre Trauminsel, auf der sie einst so glücklich war, ist ein gutes Beispiel dafür. Dass sie Dich eingeladen hat und dass Du mit ihr tatsächlich auf diese Insel gefahren bist, war für Euch beide so ein Stück von wiedergefundenem Glück – Du konntest Deine Sehnsuchtsinsel viel intensiver erleben als in Deinen Wunschträumen und sie konnte Dir etwas von ihrem Glück abgeben, ihre Traurigkeit überwinden. Und auch Kairo und Leipzig hast Du erlebt – und auch dort warst Du glücklich, weil Du anderen etwas geben konntest. Du hast nicht „Opfer“ gebracht, sondern Dir das Glück erlaubt. Ganz im Sinne von Marc Aurel: „Das Glück im Leben hängt von den guten Gedanken ab, die man hat.“[4] Und es stimmt, dass man dafür auch manchmal Geduld mit sich selbst haben muss. Dass man daran glauben muss, dass Unglück vergeht, dass man nach dem Unglück auch wieder Glück haben wird. Denn natürlich wollen alle Menschen glücklich sein – nicht immer, aber immer öfter!

Du sagst: „Wenn sich Menschen von ihren glücksfeindlichen Elementen in Körper, Geist und Seele befreit haben – dann wollen – und werden - sie glücklich sein können.“ Und: „Glück kann man lernen!“

Ja, und genau darum geht es ja auch in unserer Arbeit. Manchmal treffen auch wir – so wie Eckart von Hirschhausen – auf Menschen, die gern unglücklich sind und dennoch in der Hoffnung zu uns kommen, dass wir sie von ihrem Unglück befreien. Sie sind noch nicht so weit, dass sie es selbst tun können oder wollen. Wir sollen es für sie tun. Und dass sie mit ihren Sorgen zu uns kommen, sehen sie schon als ihren (ausreichenden) Beitrag an. Denn es hat sie Überwindung gekostet. Und sie wissen, dass auch wir es nicht umsonst tun, dass sie uns zuhören und uns auch bezahlen müssen – warum sollen sie also noch mehr leisten? Warum sollen sie nun auch noch einen anstrengenden, steinigen Weg der Veränderung gehen? Sie geben uns doch die Chance, sie glücklich zu machen. Aber damit geben sie uns auch die Verantwortung. Und das ist ihr Irrtum. Glücklich kann keiner werden, der dafür nicht selbst die Verantwortung übernimmt.


© für das Foto über Karin Rasmussen

Die Zitate, die Du von Alten und Sterbenden anführst, sind dafür beredter Beweis.[5] Wer sein Glück in fremde/andere Hände legt, vergibt sich selbst die Möglichkeit, glücklich zu werden. Nicht nur Lottogewinner machen diese Erfahrung. Sie hatten zwar „Glück“ – aber sind sie deshalb glücklicher? Vielleicht, wenn sie vorher Geldsorgen hatten, fühlen sie sich für eine Zeit lang glücklich, weil sie diese Sorgen erst einmal los sind. Und dann? Dann kommen neue Sorgen und Zweifel: Gehe ich mit dem Geld richtig um? Mögen meine Freunde wirklich mich oder doch nur mein Geld? Wie lange wird es reichen? Oder: Was werden andere jetzt von mir halten, werde ich mit Neid und Missgunst leben müssen? Darf ich zeigen, wie gut es mir geht?

Liebe Lilli, ich schließe mich Dir an: Reißen wir jetzt, wo wir leben, das Steuer herum: Gönnen wir uns ein erfülltes Leben! Fragen wir uns immer wieder, wie wir das Glück für uns finden können? Oder auch wo? Ja, vielleicht in Dänemark – dort habe ich schon viele glückliche Stunden und noch mehr glückliche Menschen erlebt: Gelassen, freundlich, hilfsbereit und zufrieden mit ihrem Leben. Sie alle hatten Freunde und Familien. Und alle taten sie etwas – für andere und für sich! So wie wir beide auch: Wir coachen,  weil es uns Spaß macht und Erfolg bringt – und weil es anderen nützt. Du hast natürlich Recht: Auch wir können nicht jedem helfen. Das wäre vermessen. Vielleicht helfen wir noch nicht mal jedem, der zu uns kommt. Denn auch wir haben Grenzen und auch für uns gehört zum Erfolg immer ein bisschen Glück. Aber – auch das ist Glück – es hat ja nicht jeder Mensch Probleme, nicht jeder ist unglücklich, auch nicht jeder Hochbegabte. Im Gegenteil. Wenn von den statistisch zu erwartenden rund 1,6 Millionen Hochbegabten in unserem Land und den etwa 1,3 Millionen Erwachsenen unter ihnen (auf die wir spezialisiert sind) nur 10% (= 130 000) mit Problemen zu uns und den anderen Hochbegabten-Coaches kämen, wären wir alle schon weit über unsere Lebenszeit hinaus schwer beschäftigt. Es ist also kein Ende abzusehen für den Job, der uns glücklich macht! Und dafür müssen wir nicht mal nach Dänemark. Jedenfalls nicht, um nach unseren Coachees zu suchen. Es gibt sie hier und sie finden uns auch hier – genau so wie wir unser und sie ihr Glück HIER finden können.


© Karin Rasmussen

Zur Erholung, Entspannung sowie für weitere Glücksmomente können wir ja trotzdem allein oder gemeinsam mit ihnen auch in andere schöne Gegenden dieser wunderbaren Welt reisen. Real oder in guten Gedanken. Es geht also weiter: Mit uns, mit dem Glück und bald auch mit unserem Gedankenaustausch. Hier ist ein Satz, der mir immer wieder, auch in Gedanken, bei jeder neuen Begegnung und erst recht bei der Bewältigung von Schwierigkeiten Kraft verleiht:
Es ist ein Glück, dass es Dich gibt!

Liebe Lilli, Ich wünsche Dir Glück, Muße um es zu genießen und viele liebe Menschen, die es mit Dir teilen.
Und ich umarme Dich,
Deine Karin


[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/nelson-mandela-nachruf-auf-den-held-der-freiheit-a-937504.html
 http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-12/nelson-mandela-nachruf
[2]http://bibel-online.net/buch/luther_1912/apostelgeschichte/20/
[3] Skulptur von Karl Ulrich Nuss aus dem Zyklus „Zehn Paare“ (2008)
  in der Skulpturenallee Strümpfelbach
[4] http://www.gluecksarchiv.de/inhalt/zitate.htm
[5] Ware, Bronnie: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Einsichten, die Ihr Leben verändern   
  werden. 6. Auflage Verlag Arkana 2013 ISBN-13: 9783442341290
  http://www.welt.de/vermischtes/article13851651/Fuenf-Dinge-die-Sterbende-am-meisten-bedauern.html


Sonntag, 24. November 2013

Wie jeder Mensch das Glück finden kann

Ein Gedanke kann nicht erwachen, ohne andere zu wecken.
Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach

Liebe Karin,

welch ein Glück, dass Du so kluge Gedanken hast: „…spüre ich in mir den Drang, unseren Gedankenaustausch in eine andere Form zu bringen und damit auch gleich auf ein anderes Niveau zu heben.“

Mit unserem Mail-Austausch seit 2011 haben wir einen gemeinsamen Anfangspunkt gesetzt. Jetzt dürfen weitere Taten in einer anderen Form folgen. Ich bin dabei! Und ich freue mich wie Du über die Anregungen und Feedbacks, die wir erhalten. Lass uns einfach alles sammeln – und dann im Frühjahr daraus etwas Neues machen. Wollen wir, dass sich in der Hochbegabung weiteres verändert -  voilà dann werden wir es tun.

Bereits Albert Einstein sagte: "Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert." Also werden wir neu aktiv.

Wenn ich jetzt unsere Zeit Revue passieren lasse und darüber nachdenke, welche Themen mir besonders wichtig waren und sind – so fällt mir ein: GLÜCK. Denken wir doch oft: Glück steht mir nicht zu. Oder: Glück kommt nur zu den anderen. Oder: Ich erlebe immer nur das Gegenteil.

Dabei ist es doch fast immer einfacher Glück zu erleben als die Menschen denken – und ich sehe, dass Du eben diese Erfahrungen auch gemacht hast: „Seitdem ich verstanden habe, dass praktisch in jeder noch so verfahrenen Situation der Keim von mindestens einer Lösung steckt, macht es mir noch mehr Freude, meine Coachees auf ihrem Weg begleiten zu dürfen.“

Und ebenfalls bin ich Deiner Meinung, wenn Du schreibst: „Denn manches, was für den einen heute ein Problem ist, hat ein anderer schon für sich gelöst – und erzählt es mir. Und ich kann es aufgreifen, in der Erinnerung behalten und eventuell an andere weitergeben, wenn es gebraucht wird. Und das wird es garantiert irgendwann von irgendwem.“

Jedoch beim nächsten Satz sehe ich das ein wenig anders: „Nur kommt leider nicht jeder zu uns, um uns zu fragen oder von seinen Sorgen zu berichten.“ Nun, es gibt rund 80 Millionen Menschen in Deutschland. Wenn wir „nur“ von 60 Millionen erwachsenen Menschen ausgehen – und wenn wir 365 Tage im Jahr arbeiten würden – fünf Coachees pro Tag – wären das 1.825 pro Jahr – 18.250 in zehn Jahren … Ich fürchte, das mit den 60 Millionen müssen wir uns aus dem Kopf schlagen.

Ich denke aber, dass ich Deine Worte auch anders verstehen kann: Viel zu viele Menschen laufen noch mit viel zu vielen Sorgen, Ängsten und Nöten durch die Welt – und wollen sich nicht helfen lassen. Und ich finde – wie Du - den Satz des Zukunftforschers Matthias Horx[1] genau richtig: „Wir müssen lernen, Krisen als Herausforderungen für mentale und kreative Wandlungsprozesse wahrzunehmen, anstatt uns ins warme Bett der Panik zu legen.“

Doch zurück zum Glück. Es ist mit dem Glück oft viel einfacher als wir denken. Lass mich Dir eine Geschichte erzählen, die ich selbst erlebt habe: Als ich ein Kind war, gehörte Geografie zu meinen Lieblingsfächern. Ich war begeistert von der Welt und ihren Schönheiten. Mag sein, dass ich eine besonders begeisterungsfähige Lehrerin hatte – jedenfalls träumte ich von vielen Ländern, Inseln und Städten. Nein, ich dachte nicht, dass ich sie alle einmal wirklich besuchen könnte. Es reichte mir, sie in Filmen und auf Bildern zu sehen. Und damals war ich schon damit glücklich.


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

Drei dieser Kostbarkeiten hatten es mir besonders angetan: die Insel X, Kairo und Leipzig. Nicht, dass die Côte d'Azur spurlos an mir vorüber gegangen wäre. Oder Paris, London, Rom, NY – nein, eher Washington. Freilich waren diese Location im Bereich des Machbaren.


Foto: Saskia-Marjanna Schulz 

Die Insel X, Kairo und Leipzig schienen kaum erreichbar. Nun magst Du sagen: Warum bist Du nicht einfach auch dorthin gefahren/geflogen als Du erwachsen warst? Du hast Recht. Diese Gedanken hätte ich haben können – aber ich bin nie auf die Idee gekommen. Denn als Kind gab es gleichzeitig einen „inneren Link: UNERREICHBAR“! Bis mir eines Tages in meinem Frauen-Coaching-Seminar eine Teilnehmerin die Augen öffnete.

Und das kam so: Frauenseminar. Ich begann meine Seminare stets mit einer Meditation. Dann gab es Frühstück. Und bevor die harten Fakten ausgepackt wurden – wurde erst einmal getanzt. Ein Lied über die Insel X war immer dabei. So auch in dieser Juni-Woche an der Nordsee – dort in dem kleinen Park mit bunten Blumen und fröhlichen Tischen an denen wir abends noch sassen und dem Bach zuschauten, der sich durch das frische Grün schlängelte.

Als der Evergreen der Insel X erklang, waren sofort alle Frauen auf der Tanzfläche. So auch Claudia[2],  eine Juristin aus München, die zunächst ganz fröhlich zu sein schien. Doch dann stand sie still, rang nach Luft. Ich öffnete die Fenster und nahm sie zur Seite. Wir setzten uns an den kleinen Tisch – und kaum hatte sie Platz genommen, brach sie auch schon in Tränen aus. Langsam begann sie zu erzählen. Sie hatte Jahre zuvor auf dieser Insel gelebt – unsagbar glücklich. Jetzt – bei diesem Lied – kam eine riesige Welle der Sehnsucht auf sie zu, die sie sprachlos machte. Glück, Trauer, Fernweh. Alles kam hoch. Claudia musste erst einmal alleine sein.

Ich ging derweil zu den anderen Frauen zurück – und dabei wurde mir zum ersten Mal klar: ICH WILL DAHIN! ICH WILL AUF DIESE INSEL! Als Claudia mich am nächsten Tag fragte, ob ich mit ihr zur Insel fliege – sagte ich spontan: JA!

Das war im Juni. Im September trafen wir uns auf dieser atemberaubenden Insel – und ich hatte die denkbar beste Fremdenführerin. Claudia indes freute sich, mir stolz all die Schönheiten ihrer Insel zeigen zu können. Pures Glück. Aber ich hab es nur durch Claudia erkennen können.

Monate später bekam ich einen geschäftlichen Auftrag, nach Kairo zu fliegen. Klar, dass ich angenommen habe. Wieder Glück. Ach ja, was ich vergass: Es  begann Monate zuvor mit Leipzig. Eines Morgens klingelte das Telefon. Die Wirtschafts-Akademie fragte: Können Sie in Berlin, Jena, Leipzig und Dresden Seminare übernehmen? Du kannst Dir sicher vorstellen wie begeistert ich war. Kurze Zeit später hatte ich eine Zweitwohnung in Leipzig und konnte jeden Tag diese wundervolle Stadt geniessen. Es war eine der glücklichsten Zeiten in meinem Leben.

Ich denke, besonders meine Träume, meine spielerischen Beschäftigungen mit diesen Lokalitäten, haben zur Realisierung geführt.

Von Marc Aurel (121 - 180), dem römischen Kaiser, weiss man, dass er gesagt haben soll: „Das Glück im Leben hängt von den guten Gedanken ab, die man hat.“ Ich denke das auch – möchte diese Aussage jedoch noch ergänzen: Man braucht manchmal auch sehr viel Geduld.

Ich kann mich ebenfalls der Aussage von Abraham Lincoln anschliessen: „Die meisten Leute sind in etwa so glücklich, wie sie es sich selbst vorgenommen haben.“ Oder auch: Die meisten Leute sind in etwa so glücklich, wie sie es sich selbst ERLAUBEN.“ Wir neigen ja dazu, zu den Verboten, die es schon in der Welt gibt, noch einige hinzuzudichten. Manchmal dachte ich schon: Ist das eine neue Sportart: sich auszudenken, warum man was nicht tun oder sein darf? (Sich bestrafen – bevor es ein anderer tut?)

Eckart von Hirschhausen geht noch einen Schritt weiter. Er sagt: „MENSCHEN SIND GERNE UNGLÜCKLICH.“[3] Und er begründet das so: „Davon kann jeder Arzt berichten: Hypochonder zum Beispiel – denen geht es nicht gut, wenn es ihnen gut geht. Masochisten tut es weh, wenn der Schmerz nachlässt. (…) Offenbar lieben wir Schmerz, der nachlässt, mehr als neutrale Gefühle. Das erklärt auch, warum Frauen so gerne Schuhe kaufen, die einen Tick zu eng sind – für den kontrollierbaren Glücksmoment am Abend, wenn der Schmerz beim Ausziehen nachlässt.“[4]

Ich gehe nicht soweit, dass Menschen GERNE unglücklich sind. Wahrscheinlich ist „glücklich sein“ eine allgemeine Begabung, die von manchen Menschen noch nicht zugelassen, nicht entdeckt, nicht kultiviert worden ist.

Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) überzeugt mich da schon eher als Hirschhausen, wenn er sagt – wie etwa in der Nikomachischen Ethik[5]: „Alle Menschen wollen glücklich sein.“ Der Platon-Schüler befindet sich mit dieser Äusserung in guter Gesellschaft mit seinem Kollegen Lucius Annaeus Seneca (um 4 v. Chr. - 65 n. Chr.), der ein paar Hundert Jahre später gesagt haben soll: „Omnes beatam vitam optent.“ (Alle wünschen sich ein glückliches Leben.)

Ich schränke diese Gedanken ein und sage: Wenn sich Menschen von ihren glücksfeindlichen Elementen in Körper, Geist und Seele befreit haben – dann wollen – und werden - sie glücklich sein können.

Die gute Nachricht: Glück fällt zwar nicht einfach so vom Himmel. Jedoch: Glück kann man lernen. Das hält sogar Herr Hirschhausen für möglich und bietet ein Glückstraining[6] an. Ernst Fritz-Schubert, Direktor einer Heidelberger Schule, denkt in ähnlicher Richtung und erfindet das "Schulfach Glück". Sein Tipp: „Negative Gedanken vermiesen schon am Morgen den Tag. Unter der Dusche mache ich mich schon morgens auf die Suche nach den schönen Ereignissen, die an diesem Tag auf mich warten. Vorfreude ist ein unglaublicher Stimmungsaufheller.“[7]

Auch der Verleger Florian Langenscheidt[8] hält das Glück für lern- und machbar: "Wir entscheiden selber, ob wir dem Glück eine Chance geben." Er sagt: „Ja, man kann an sich arbeiten und sich fähiger zum Glück machen. Das Lesen und Nachdenken über Glück und auch das Beobachten anderer Menschen lassen mich selbst glücklicher werden. Wir sind unser eigener Wettergott, wir können entscheiden, ob wir dem Glück eine Chance geben oder nicht.“[9]

Wie wir sehen, haben wir es selbst in der Hand, glücklich oder glücklicher zu werden. Wir sollten es tun – solange wir leben. Denn – weisst Du, was sterbende Menschen vor allem bedauern? Sterbende sagen[10]:

o Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir selbst treu zu bleiben, statt so zu leben, wie andere es von mir erwarteten

o Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet

o Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen

Mit anderen Worten: Authentisch bleiben, weniger arbeiten, mehr erfüllt leben. Ist es nicht traurig, am Ende eines Lebens eine solche Bilanz ziehen zu müssen, die da heisst: Ich war nicht aufmerksam genug zu mir – ich habe mich zu wenig für meine Interessen eingesetzt – ich habe zu viel gearbeitet.


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

Reissen wir jetzt, wo wir noch leben, das Steuer rum: Gönnen wir uns ein erfülltes Leben! Du machst uns das ja gerade so schön vor mit ANNA: „Aus den vielen ABERs werden nach und nach Ideen und Versuche für ein VIELLEICHT und sogar schon einige JAs.“ Ich finde das grossartig! Ich finde es grossartig von ANNA, dass sie sich ihren Zielen stellt und mutig ihren Erfolg erkämpft. Und ich bewundere Dich, wie Du langmütig, einfühlsam und kreativ keine Chance auslässt, ANNA ihrem Glück näher zu bringen.

Wie können wir für uns das Glück finden?


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

Meine Gedanken dazu: Wie Holly Golightly den Coffee-to-Go Becher und ein Croissant in die Hand nehmen und mal wieder zum „Frühstück bei Tiffany[11]“ zu gehen. Also einfach irgendwohin, wo man träumen kann – wo Wünsche den Mut haben, aus der Kiste zu springen. Für eine Freundin von mir, die im Ausland lebt, ist das Glück ein Fenster. Immer, wenn sie die Möglichkeit hat, geht sie zum Kölner Dom. Und stellt sich vor das Südquerhausfenster, das von dem Kölner Künstler Gerhard Richter[12] so genial entworfen wurde. Das sei „ihr Glück“ – sagt sie.

 

Andere Menschen mögen nach Dänemark fahren. Denn einer Studie[13] (Vereinte Nationen: "World Happiness Report 2013") zufolge leben dort die glücklichsten Menschen der Welt.

 

„Glück ist“, sagt Einstein „was Lächeln macht, was Angst, Sorge, Ungewissheit vertreibt und inneren Frieden schenkt.“ Welch schönes Weihnachtsgeschenk! Für uns selbst. Und für unsere Lieben.


Foto: Saskia-Marjanna Schulz

Ich wünsche Dir Glück. In der Adventszeit, zu Weihnachten – immer!
Und ich umarme Dich,
Deine Lilli

PS Danke für Deine Stufen. Die passen genau.
PPS Mir ist derweil eines der Sesenheimer Lieder von unserem Lieblings-Goethe in die Hände gefallen:

Willkommen und Abschied

Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.

Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch frisch und fröhlich war mein Mut:
In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!

Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!

Doch ach, schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen welche Wonne!
In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!

Johann Wolfgang von Goethe

Späte Fassung von "Willkommen und Abschied" (1785)

Siehe auch:





[1] Matthias Horx http://www.horx.com/
[2] Name geändert
[3] SIEBEN DINGE ÜBER DAS GLÜCK, DIE SIE NIE WISSEN WOLLTEN, ABER EIGENTLICH SCHON WISSEN http://www.hirschhausen.com/glueck/7-dinge-uebers-glueck.php
[4] a.a.O.
[6] Glückstraining
http://www.hirschhausen.com/glueck/der-kompass-zum-glueck.php , siehe auch „Anmeldung zum Netzwerk und Onlinetraining“
[7] Ernst Fritz-Schubert, Erfinder des "Schulfachs Glück": "Glück kann man lernen"
[8] Verleger Florian Langenscheidt: "Wir entscheiden selber, ob wir dem Glück eine Chance geben."
[9] a.a.O.
[10] Ware, Bronnie: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen.
[12] Kölner Domfenster http://www.youtube.com/watch?v=Ree9Ks64VQ8 . siehe auch
Dom zu Köln http://www.koelner-dom.de/ , Kölner Dom für Kinder http://www.dom-fuer-kinder.de/
[13] „Die Dänen sind laut dem von den Vereinten Nationen erstellten "World Happiness Report 2013" im Herbst zum glücklichsten Volk der Erde gekürt worden - die Deutschen landeten abgeschlagen auf Platz 26.“


Sonntag, 10. November 2013

Hochbegabtes Treppentraining oder panische Sinnkrise?

Liebe Lilli,

oje, die Zeit rennt – schon bald ist das Jahr 2013 wieder um und wir kommen bei Prometheus-Brief Nr.50 an! 

Irgendwie macht mich das ein wenig stolz, denn wir haben damit schon länger durchgehalten als so mancher andere. Gleichzeitig spüre ich in mir den Drang, unseren Gedankenaustausch in eine andere Form zu bringen und damit auch gleich auf ein anderes Niveau zu heben: Ich denke nämlich, dass es für neu hinzugekommene LeserInnen ziemlich mühsam sein mag, unsere früheren Briefe in der richtigen Reihenfolge nachzuvollziehen. Zugleich enthalten viele unserer Texte wertvolle Berichte über die Erfahrungen unserer Coachees. Und die möchte ich gern möglichst vielen Ratsuchenden etwas unkomplizierter zugänglich machen. Lass uns deshalb darüber nachdenken, ob wir nicht nach Prometheus- Brief Nr.50 eine Pause einlegen oder sogar ganz auf ein anderes Format umsteigen. Mir gefällt die Idee, einen neuen Anfang in anderer Form zu planen. Es ist wie die erste Seite in einem ungelesenen Buch: spannend, herausfordernd, verlockend und irgendwie heiter, verheißungsvoll. (Uuuups, hat mich da schon das Weihnachts-Vorfreude-Virus infiziert?) Egal, lass uns darüber auch mit unseren LeserInnen ins Gespräch kommen. Vielleicht haben sie ja direkte Wünsche an uns, oder sie können uns Tipps geben, was sie besonders interessiert?

Also, liebe LeserInnen (ja, ich meine Sie alle, nicht nur die Hochbegabten unter Ihnen): Schreiben Sie uns, lassen Sie uns wissen, wie Sie über ein Ende oder eine lange Pause im Prometheus- Briefwechsel von Lilli Cremer-Altgeld und Karin Rasmussen denken. Vielleicht bieten die jetzt schon länger werdende Abende oder die bevorstehenden Feiertage Ihnen ja die Gelegenheit, in sich selbst hinein zu lauschen und uns Ihre Gedanken anzuvertrauen. Bleiben Sie nicht im Schatten stehen. Teilen Sie uns Ihre Wünsche mit und bitte auch Ihre Fragen und Ihre Erfahrungen. Denn sicher können davon auch andere profitieren, die vielleicht nicht den Mut zum Schreiben haben. Oder die glauben, mit ihren Problemen allein zu sein. Wir freuen uns über jede Nachricht – und wir wollen auch in Zukunft mit Ihnen in Verbindung bleiben!


© Karin Rasmussen

Liebe Lilli, Du hast so wunderbar verständnisvoll beschrieben, warum wir immer mal wieder ein ABER in uns tragen. Es ist tatsächlich genau so: „Wir sprechen deshalb mit anderen Menschen über unsere Themen, weil wir alleine nicht so richtig weiterkommen. Wir kennen doch bereits unsere Sackgasse, in die wir gelaufen sind. Aber wir erkennen noch nicht, welche Wege nach draußen führen. Zu unserem Ziel. Wir sehen das Ufer auf der anderen Seite – wissen aber nicht wie wir dahin kommen.“

Das ist genau die Situation, in der wir alle uns gegenseitig helfen können, wenn wir miteinander sprechen. Wir sind als Coaches natürlich immer zugleich in einem Prozess des Gebens und Nehmens: Je länger ich dieser Berufung folge, um so mehr lerne ich. Geht es Dir auch so? Seitdem ich verstanden habe, dass praktisch in jeder noch so verfahrenen Situation der Keim von mindestens einer Lösung steckt, macht es mir noch mehr Freude, meine Coachees auf ihrem Weg begleiten zu dürfen. Denn manches, was für den einen heute ein Problem ist, hat ein anderer schon für sich gelöst – und erzählt es mir. Und ich kann es aufgreifen, in der Erinnerung behalten und eventuell an andere weitergeben, wenn es gebraucht wird. Und das wird es garantiert irgendwann von irgendwem. Nur kommt leider nicht jeder zu uns, um uns zu fragen oder von seinen Sorgen zu berichten. Deshalb haben wir ja auch unseren Briefwechsel öffentlich gemacht – damit auch jene profitieren können, die wir nicht sehen oder von denen wir nichts erfahren. Aber: Da das Heute morgen schon Gestern ist, können sich Bedingungen und Anforderungen schnell und einschneidend ändern, und schon kann auch ein bisher ganz erfolgreicher Mensch erst mal ratlos sein. Da ist es dann gut, wenn man uns findet – und wenn wir auf mehr als nur unsere eigene Erfahrung zurückgreifen können.


© für das Foto 
über Karin Rasmussen[1]

Deine so wirkungsvolle Methode, in Alternativen denken zu lernen, kenne ich auch. Zwar habe ich nicht so viele verschiedene Sportarten ausprobiert wie Du, aber mit dem Tanzen hatte ich eine vergleichbare Erfahrung: Als Kind sollte ich unbedingt Ballettunterricht bekommen – aber die Trainer hielten mich für ungeeignet. Egal, ich wollte tanzen! Und zwar einfach nur tanzen, mich bewegen nach Musik, meine Stimmungen ausdrücken und meine Emotionen ausleben. Da ich aber keine Anzeichen von Talent für die Bühnenreife zu bieten hatte, wurde der Unterricht schnell wieder gestrichen. Stattdessen durfte ich in die Musikschule gehen und dort lernte ich Konzertgitarre spielen – ebenfalls mit durchschnittlichem Erfolg. Also war auch damit irgendwann Schluss. Es „lohnte“ sich nicht. Heute bin ich dankbar, denn mein Musikverständnis, meine Koordination und vor allem meine Freude an dem, was andere können, haben ständig zugenommen. Und zum Tanzen bin ich im späten Erwachsenenalter auch noch gekommen: In einem Profi-Senioren-Tanzclub fand ich verständnisvolle, humorvolle, tanzbegeisterte Freunde, denen meine Bühnenreife völlig egal war. Meine Freude hält bis heute an. Und manchmal tanze ich einfach so für mich Figuren nach, es scheint die mir innewohnende natürliche Bewegungsart zu sein.

Ich habe mich auch schon sehr früh für Design, Gestalt und Form interessiert und häufig mit verblüffend einfachen „Abweichungen“ von der Norm ganz erstaunliche Wirkungen erzielt. Nicht nur theoretisch, auch ganz praktisch ist so aus manchem eigentlich verunglückten Versuch etwas zu gestalten, ein kleines Kunstwerk geworden. Einzigartig, individuell und immer wieder überraschend haben sich Lösungen abseits der vertrauten Wege gefunden. Und so hatte ich auch oft ein wirklich besonderes Geschenk für liebe Menschen – was dankbar entgegengenommen wurde. Noch heute bin ich begeisterte Baumarkt-Entdeckerin und auch Bastel-Läden faszinieren mich viel mehr als Spielzeug-Geschäfte, wenn ich nach Geschenken für meine Enkel suche. Es ist diese Vielfalt an Möglichkeiten und die Einladung zum Ausprobieren, die mich auch beim Coaching immer wieder erfreut. Wir müssen unseren Coachees das ABER gar nicht abgewöhnen, sie vergessen es nahezu von selbst, wenn wir sie nach ihren Wünschen, Träumen und Stärken fragen (denn das passt meist ideal zusammen) und sie dann einladen, über viele verschiedene Wege zum Ziel nachzudenken. Alleine schon das Denken, erst recht aber das Gehen verschiedener Wege bereichert und hebt die Laune.


Und je mehr Neuerungen wir selbstbestimmt und optimistisch in unser Leben bringen – von der neuen Frisur über das neue Hobby bis hin zu den neuen Freunden und dem neuen Job – umso „fitter“ sind wir für überraschende Herausforderungen. Es ist wie beim Tanzen: Wer nur Walzer rechtsherum kann, wird nicht viel Spaß daran haben, nur schwer neue Tanzpartner finden / halten können und auf der Tanzfläche auch kaum Erfolge feiern. Eher sitzt man so am Rand herum, ärgert sich über die Musik (müssen die auch gerade Walzer spielen!?) und schaut neidvoll den anderen zu. Wer außer rechts- auch linksherum tanzen kann, kommt schon weiter. Und wer noch zusätzliche Figuren beherrscht, kann selbst die gehbehinderte Großmutter auf der Hochzeit des besten Kumpels noch auf charmante Weise mit einem Tänzchen glücklich machen. Denn nur derjenige hat wirklich die Chance auf eine selbstbestimmte Auswahl, der ein breites Repertoire/Reservoir von Lösungsmöglichkeiten kennt. Oder: der Menschen kennt, die über ein solches Reservoir verfügen und bereit sind zum Gespräch.


© Karin Rasmussen

Übrigens sind nicht nur Gespräche, sondern auch Bücher über die sich ständig ändernden Bedingungen und Anforderungen unserer Gegenwart für mich besonders spannend. Und immer wieder stoße ich dabei auf wahre Schätze:  „Wir müssen lernen, Krisen als Herausforderungen für mentale und kreative Wandlungsprozesse wahrzunehmen, anstatt uns ins warme Bett der Panik zu legen.“[2] Wie findest Du diesen Satz? Professor Horx hat auch noch andere schöne Provokationen drauf. Er fordert zum Beispiel,  gegen Regeln „auf intelligente Art“ zu verstoßen, um neue Lösungen zu finden. Als ich diesen Satz in einer Fernseh-Lektion von ihm hörte und dabei seine Augen leuchten sah, musste ich sofort wieder an ANNA denken.

Ja, Du hast Recht: Sie (wir?) machen Fortschritte. Aus den vielen ABERs werden nach und nach Ideen und Versuche für ein VIELLEICHT und sogar schon einige JAs. Und das verdanken wir neben ANNAs Mut und Kraft auch dem sehr praktikablen Konzept des Zürcher Ressourcen Modells[3] . Ich bin darüber sehr froh, denn es kostet natürlich schon Nerven und  Anstrengung, insbesondere weil es tatsächlich auch bedeutet, einiges loszulassen.

ANNA schreibt mir: „Das waren harte Nüsse, aber Sie haben mich mit Erfolg gezwungen nachzudenken. Das hat mir gutgetan, aber auch Kraft gekostet.“ Die Entscheidung für einen Neustart in einem ganz anderen Landesteil, viele Kilometer von der vertrauten Heimat, den Freunden und Kollegen entfernt – dazu eine neue Art von Arbeit und mit so wenig Sicherheit über die eigenen Potenziale (du erinnerst Dich: man hatte ihr trotz Studienabschluss immer wieder gesagt, dass sie nicht normal sei, dass aus ihr nie etwas werden würde), das Ganze auch noch kurz vor Beginn der „dunklen“ Jahreszeit – dazu gehört Mut. Und den könnte man schnell verlieren, wenn man die vielen gleichzeitig auftretenden Anforderungen und Ungewissheiten als Krise verstehen würde. Aber ANNA hat keine Panik bekommen – sie hat es nicht zugelassen. Sie hat tapfer eine Aufstellung ihrer Stärken für mich erarbeitet, so nach und nach ihre Selbstzweifel in die Ecke gestellt und ihren Blick auf die (vorläufig noch kleinen, aber stabilen) Erfolge ihrer ersten Schritte gerichtet. Sie lernt, die Entfernung, die heute noch zwischen ihr und ihrem großen Ziel liegt, nicht zu fürchten. Und sie hat erkannt, dass andere ihre Stärken auch sehen. Ihre Freunde haben ihr bestätigt, was sie selbst nicht glauben konnte: dass sie stark ist, ein wichtiger Mensch für viele andere und dass sie deshalb auch ihre verschiedenen Weges-Abschnitte nicht allein gehen muss. Jetzt sieht sie schon viel optimistischer in ihre Zukunft und traut sich auch zu, besser für sich selbst eintreten zu können.


© Karin Rasmussen

In einem nächsten Coaching-Schritt wird ANNA lernen zu akzeptieren, dass jeder Mensch seinen eigenen Rhythmus hat. Genau wie Du schreibst: „Manchmal sind Hochbegabte sehr langsam. Dann wieder sehr schnell. Beides ist richtig, wenn wir wissen, wann wir schnell – und wann wir langsam sein dürfen.“ Ich werde ihr das Buch von  Daniel Kahneman „Thinking, Fast and Slow. Schnelles Denken, Langsames Denken“[4] empfehlen. Denn ANNA ist klug und zieht aus solchen Anregungen ihre eigenen weitreichenden Schlüsse. Sie hat nur bis jetzt nicht gewusst / geglaubt, dass solche „wichtigen“ Bücher auch für sie geschrieben werden und dass sie ihnen gewachsen ist. Da hatte sie einfach das falsche „Bauchgefühl“. Sie fühlte sich durch ihre Hochbegabung verpflichtet, etwas ganz Besonderes zur Verbesserung der Welt zu leisten. Und sie fand keine Aufgabe für sich, die diesem Ziel entsprach. Doch die einfachere Frage: muss man hochbegabt sein, um Gutes zu tun, die konnte sie sehr schnell beantworten! Und seitdem weiß sie auch, dass alles was sie tut, etwas Besonderes ist – dadurch, dass sie es TUT und WIE sie es tut. Das hat viel Druck von ihr genommen, denn sie misst sich selbst jetzt nicht mehr an irgendwelchen Berühmtheiten, sondern sie fragt sich jeden Tag: Habe ich mein Bestes gegeben? Du ahnst es schon: Sie kann immer öfter JA zu sich selber sagen. Und siehe da – sie schafft mehr, ist fröhlicher und hat sich sogar schon vorgenommen, ihre Magisterarbeit zu beenden.

ANNA und alle unsere LeserInnen, jeder einzelne von uns, hat gute Chancen, auf diesem oder ganz anderen Wegen näher zu sich selbst zu finden. Denn wenn die Prognosen stimmen[5], dann bewegt sie die gesellschaftliche Entwicklung der ganzen Welt in eine Richtung (die sechste Welle des Kondratiew-Zykluss), in der jeder Einzelne mit all seinen Fähigkeiten in seiner individuellen Unverwechselbarkeit dringend gebraucht wird und gleichzeitig zum ersten Mal in der Geschichte auch die Chance bekommt, seine Potenziale frei zu entfalten. Wir werden vielleicht für die Umstellung in unserem Denken eine längere Zeit brauchen als für die Veränderung unseres alltäglichen Tuns. Und deshalb, liebe Lilli, werden wir zwei wohl noch viele schwierige Fragen zu hören bekommen. Ich freue mich darauf! Und ich reagiere – mal schneller, mal langsamer – mit der Suche nach neuen oder anderen Wegen, für mich, für meine Coachees, für die Lösung der Fragen unserer Zeit. Ich danke Dir, dass Du dabei an meiner Seite bist und wir uns immer wieder gegenseitig inspirieren können.

Liebe Lilli, ich wünsche Dir für die Adventszeit immer wieder geruhsame Stunden mit einem Buch am Kamin oder mit fröhlichen Gedanken im Freien – auf jeden Fall aber wünsche ich Dir viel Freude und gute Gesundheit.
Und wenn Du magst, auch Verse – heute mal nicht von unserem Lieblings-Goethe, sondern von einem, der trotz vieler selbstgeschaffener Qualen die Welt klug bereichert hat.

Sei umarmt
Deine Karin



© für das Foto 
über Karin Rasmussen


Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse (1877-1962), 1941





[1] Skulptur von Karl Ulrich Nuss aus dem Zyklus „Zehn Paare“ (2008)
in der Skulpturenallee Strümpfelbach
[2] Prof. Matthias Horx, Zukunftsforscher, http://www.horx.com/Reden/Future-Markets.aspx  
[3] Maja Storch, Frank Krause: Selbstmanagement- ressourcenorientiert. 4. Vollständig überarbeitete Auflage, Verlag Hans Huber 2011, ISBN 987-3-456-84444-2
[4] Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken
[5] Die 6. Welle im Kondratiew-Zyklus stellt ins Zentrum der Entwicklung, was HB schon heute als entscheidende Entwicklungsbedingung fordern und brauchen: Kooperation auf der Basis von Vertrauen, Bildung, Gesundheit, intelligente Netzwerke und Biotechnologie, nachzulesen z.B. unter: http://www.kondratieff.net/19.html, siehe auch Horx, http://www.horx.com/Reden/Future-Markets.aspx