Liebe Lilli,
hab
ganz herzlichen Dank für Deine Antwort mit den vielen Anregungen und den
wunderbaren Zitaten! Es ist einfach toll, immer wieder Beispiele berühmter
Denker zu entdecken, in denen die kompliziertesten Zusammenhänge in klare und
überzeugende Worte gefasst sind.
Deine Lösung: Du
fragst Zeus (und sicher oft auch andere), wenn Du mehr Fragen als Antworten im
Kopf hast. Mir fiel dazu spontan ein mehrfach preisgekrönter Film aus meiner
Jugend ein (1). In diesem Film wird –
wahrscheinlich unbeabsichtigt – ein Problem vieler Hochbegabter analysiert.
Welchen Zielen darf man folgen? Kann man andere für die Folgen des eigenen
Handelns verantwortlich machen? Es geht
in diesem Film um die historische Schuld und die Rechtfertigung dieser Schuld
aus „Befehlsnotstand“.
Was das mit
Hochbegabten zu tun hat? Nun, wir wissen, dass Hochbegabte oft ein stark
ausgeprägtes Gerechtigkeitsbewusstsein und ein tief verankertes Gewissen haben.
Sie wollen keinem wissentlich schaden, sondern immer „anständig“ handeln. Da
sie gleichzeitig aber wissen, dass sie nie alle Folgen ihres Handelns
voraussehen können (und nicht sicher sind, nur anständigen Zielen zu folgen
bzw. anständigen „Herren zu dienen“), wissen sie oft auch nicht, wie sie handeln
können. Sie haben gewissermaßen Furcht vor sich selbst: Furcht, der
Verantwortung nicht gerecht werden zu können, unwissentlich Schuld auf sich zu
laden, für andere unverständliche und deshalb unbeherrschbare Risiken zu
erzeugen. Du zitierst den US-amerikanische Philosophen Ralph Waldo Emerson:
„Furcht besiegt mehr Menschen als irgendetwas anderes auf der Welt.“. In diesem
Sinne besiegen Hochbegabte sich manchmal selbst, wenn sie glauben, dass es für
sie keine Hilfe gibt.
Deshalb nehmen sie
meist auch nicht wie Millionen anderer Menschen Woche für Woche am (scheinbar
unanständigen) Glücksspiel teil – obwohl sie damit kaum jemandem schaden
würden. Stattdessen versuchen sie lieber, vernünftige und anständige Lösungen
für die Probleme der anderen zu finden. Du weißt schon, ich meine die
„Klugscheißer und Besserwisser“ unter uns, denn denen erscheinen die Probleme
der Anderen nun mal lösbarer als ihre eigenen.
Doch wie Du richtig
schreibst: Würden Hochbegabte alles wissen und können, würden wir uns sicher nicht
so lange über sie unterhalten. Und uns ihre Probleme, Nöte und Sorgen zu Herzen
nehmen. Und stetig darauf hinweisen, dass auch ihnen geholfen werden kann. Denn
sie haben nun mal Probleme, Nöte und Sorgen, meist mit sich selbst. Ein Thema,
welches in diesem Zusammenhang immer wieder auftaucht, ist die von Dir so schön
knapp formulierte Frage: Wenn ich meine Begabung erkannt habe – was mache ich
dann? Weitermachen wie bisher? Wohl kaum! Veränderungen müssen her! Welche?
Wie? Reformen? Oder Revolutionen?
Und das ist auch
der Kern der Hilfe, die hier gebraucht wird: 1. Mut und 2. Fragetechniken. Also
Gedanken sortieren, Fragen stellen und auswerten. Und aus den Antworten neue
Fragen ableiten. Fragen, die man Zeus,
Goethe oder anderen Vorbildern im stillen Zwiegespräch stellen kann, aber auch
direkt ganz „normalen“ Menschen oder per Internet dem geballten Wissen der
Menschheit. Coaching ist allerdings anders als Beratung und Therapie: Unsere
Hilfe besteht eben gerade nicht darin, dass wir unseren Coachees sagen, „was
sie ändern sollen.“ Genau das wollen Hochbegabte ja selbst herausfinden. Und
damit die Verantwortung für ihre Änderungen auch selbst behalten. Sie wollen
und können im Coaching eigene Antworten auf ihre Fragen finden – oder
herausfinden, welche Fragen zu stellen sind. Das Beispiel Deiner
wiedergefundenen Malerin ist einfach wunderbar: Nachdem sie ihren stärksten
Traum erkannt hatte, konnte sie sich konkretere Fragen stellen. Wie komme ich
nach Amerika, um dort malen zu können. Was brauche ich an Kontakten, wer kann
mir mit Informationen helfen, was kostet es, wo werde ich wohnen usw. - also
alles beantwortbare Fragen. Fragen, die man mit etwas Hilfe von anderen lösen
kann und deren Antworten den Entschluss zum Handeln erleichtern. Das heißt nicht:
es leicht machen! Aber auch hier stimmt Dein wunderbares Zitat von Lucius Annaeus Seneca: „Nicht weil es schwer ist,
wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“
Auch ich wundere
mich manchmal, warum nicht mehr Menschen den Mut finden, ihrem Herzen zu folgen
und ihre Träume zu leben, nach ihrem Glück zu streben? Aber immer wenn ich
darüber nachdenke, ertappe ich mich selbst. Auch ich neige dazu, mir manche
Hindernisse unüberwindlich auszumalen, gewissermaßen als Rechtfertigung für mein
Zögern (und meine Angst vor dem Versagen). Ich will nicht Kraft, Mut, Zeit und
Geld in etwas investieren, was sich „nicht lohnt“. Dabei gibt es doch gar keine
Garantie für Erfolg. Ich weiß doch genau, dass Erfolg nur eintreten kann, wenn
ich es versuche. Aber …
Meine „Aber“ sind
häufig gewisse Risiken des Glücks: Neid, Missgunst, eventuell sogar Mobbing.
Noch häufiger aber ist es ein Gefühl der Ungerechtigkeit: Es gibt doch so
viele, denen es viel schlechter geht als mir. Viel zu viele! Mir geht es doch
eigentlich gut! Habe ich das Recht, nach noch mehr Glück zu streben, als ich
schon habe? Kann ich nicht mit meinem „kleinen Glück“ (wie demagogisch!)
zufrieden sein? Ich will doch, dass alle glücklich sind. Wenigstens will ich
nicht am Unglück der Anderen Schuld sein. Und wer Grund hat, mich zu beneiden,
ist der nicht unglücklich durch mich?
Aha, ertappt! So
viel Macht habe ich gar nicht. Wer mich beneidet, tut dies nicht durch mich und
wegen mir! Und eigentlich ist es auch gar kein schlechtes Gefühl, beneidet zu
werden. Aber es ist lästig, mancher wird da schon sehr unangenehm. Doch heißt
Glück, allen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen? Nein, sicher nicht. Im
Gegenteil – in der Überwindung dieser Furcht und in der Anstrengung für das
eigene Glück liegt nicht nur die Chance auf Erfolg. Es ist an sich schon ein
Erfolg! Der Mut, sich selbst zu überwinden. Und auch zu akzeptieren, dass nicht
jeder andere glücklich darüber ist. Vielleicht kann das ja sogar anderen
helfen, ihrerseits die Furcht vor sich selbst zu überwinden. „Furcht besiegt mehr Menschen als irgendetwas
anderes auf der Welt.“ Ich danke Dir sehr für dieses Zitat – und denke dabei
auch an so manche meiner Coachees, welche die Schuld an ihrem Un-Glück bisher
bei anderen suchten.
Liebe
Lilli, Du ziehst Bilanz über 24 Mails in einem Jahr und über unsere Themen
Bescheidenheit, Fairness, Respekt, Forschung, Wunder, Selbstkritik,
Selbstzweifel, Small Talk, Unwissenheit, Erfolg, Freiheit, Realitätssinn,
Rettung und Träume. Ich freue mich sehr, dass aus dieser Mail-Sammlung ein Buch
werden wird. Und dann jedes Jahr ein weiteres hinzu kommt. Auch ich hoffe, es
erinnert viele Menschen daran, dass Träume wahr werden können. Natürlich wird
durch unseren Gedankenaustausch und die daraus entstehenden Bücher allein
niemand glücklich werden – wie hochbegabt die Leser auch immer sein mögen. Aber
sie können ermutigt werden. Denn auch Hochbegabte brauchen Mut. Mut für
„Fehler“, aus denen sie schnell und nachhaltig lernen werden. Mut für Fragen,
denn sie können und müssen nicht alles wissen (vor allem nicht vorher). Mut zum
Risiko, denn auch sie haben keine Garantie für Erfolg und es wird ihnen nichts
geschenkt. Und wir können ihnen helfen, die richtigen Fragen zu finden und die
Suche nach den Antworten zu erleichtern im Sinne von Aristoteles: „Wer Erfolg
haben will, muss die richtigen, vorbereiteten Fragen stellen.“ Also Mut zur
Selbsthilfe in einem Netzwerk kluger Menschen. Und das ganz besonders dann,
wenn sie mal wieder glauben, es ginge nicht weiter!
„Wenn
die anderen glauben, man ist am Ende, dann muss man erst richtig anfangen!“
Konrad Adenauer
Wir machen auch
weiter! Unser Gedankenaustausch ist schon jetzt
für viele unserer LeserInnen Ermutigung und Anregung, in ihrem Leben
etwas in Richtung Glück zu ändern. Mit unserem ersten Buch (und allen
folgenden) können sie diese Ermutigung vertiefen und weitertragen. Denn auch
andere Menschen brauche Hilfe, der Weg zum Glück ist nicht leicht. Mancher
fühlt sich dafür nicht stark genug. Siehe Dein Goethe-Zitat „Vor andern fühl
ich mich so klein, Ich werde stets verlegen sein.“
Und doch verdanken
wir Goethe unter anderem den „Faust“ (Mein Lieblings- Goethe!) mit seinem uns
so vertrauten Streben nach Wissen, seinen Gewissensnöten, dem Selbstzweifel und
menschlichen Schwächen und der ewigen Frage „was die Welt im Innersten zusammen
hält“. Lass sie uns weiter ermutigen. Ich bin ganz sicher, dass mancher
Hochbegabte wie Goethe auch, trotz eigener Verlegenheit Großartiges vollbringt.
Was keiner wagt, das sollt ihr wagen
was keiner sagt, das sagt heraus
was keiner denkt, das wagt zu denken
was keiner anfängt, das führt aus. (aus: Der Zauberlehrling, Johann Wolfgang von Goethe)
was keiner sagt, das sagt heraus
was keiner denkt, das wagt zu denken
was keiner anfängt, das führt aus. (aus: Der Zauberlehrling, Johann Wolfgang von Goethe)
In diesem Sinne grüße ich Dich ganz
herzlich und wünsche Dir
eine karnevalsfreie Zone für Deinen Geist
Deine Karin