Liebe
Karin,
Du
machst mir eine grosse Freude: Dass Du noch in diesem Jahr ein
Forschungskonzept entwickeln wirst, begeistert mich. Karin, Du hättest es sehen
sollen: Ich bin gleich durchs Büro getanzt.
Wer ist die forschende Unbekannte,
die sich mit Dir an die Arbeit machen will? Wenn Du magst, berichte mir bitte
bald mehr davon. Ich bin aufgeregt vor Freude!
Von
Deinem spannenden Workshop „Hochbegabung verstehen - Was ist anders im
HB-Gehirn?“ (1) lese ich mit einem mich freuenden und mit einem traurigen Auge.
Ich freue mich über die coole Idee. Ich freue mich über die spannenden
Fragestellungen wie etwa „Was sind IQ-Bausteine und sind diese gleichzeitig
HB-Bausteine?“, „Welche Intelligenzbereiche werden mit dem IQ abgebildet und
was sagt das über Begabungen?“ und „Welchen Potenzialvorsprung kann man durch
HB haben und wie kann man diesen Vorsprung nutzen?“. Mit Dir. Am 17.09.2012
oder 18.09.2012 in Berlin. Dich und andere Hochbegabte näher kennen lernen. Wer
wäre nicht gerne dabei? Glückwunsch denen, die das erleben dürfen. Eine
brilliante Idee! (Wir feiern am 17./18. in der Familie einen runden Geburtstag
– aber ich werde in Gedanken immer mal in Berlin sein.)
Mein
trauriges Auge: Was ist mit den hochbegabten Menschen, die nicht in Berlin sein
können? Deren Terminkalender einfach mit dem Kopf schüttelt und NO sagt? Zuerst
dachte ich: Wir können gemeinsam ein Buch zu diesem Thema schreiben. Mich
fasziniert unser Gehirn seit meiner Kindheit. Seit mein Grossvater nach einem
Schlaganfall nicht mehr sprechen konnte. Später an der Uni, bei Praktika in
Krankenhäusern und während meiner Trainerausbildung. Aktuell arbeite ich an dem
Thema „Interaktion mit einem komatösen Hochbegabten“.
Bald
kam mir aber ein anderer Gedanke: Ein Film kann dieses Thema – auch für
Angehörige der Hochbegabten – besser transportieren. Und so habe ich ein neues
Angebot an Dich – wenn ich meine aktuellen Hausaufgaben gemacht habe – wollen
wir gemeinsam einen Film über „Hochbegabung verstehen“ machen? Die Erfahrungen
aus Deinem Workshop können dann ein Herzstück dieses Films sein.
Wie
gefällt Dir die Idee?
Ich
kann mir vorstellen, dass wir dadurch auch Deiner Anregung vor dem Hintergrund
Stefan Zweigs „Wer einmal zu sich selbst
gefunden hat, der kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren.“ näher kommen:
„Ich glaube nämlich: das genau ist es, wonach so viele Hochbegabte – und nicht
nur sie – suchen. Wer bin ich, was kann ich, was bedeute ich in der Welt in der
ich lebe und was wird von mir bleiben?“
Wie
aber können wir zu uns selbst finden? Wir
lernen alles Mögliche in den Schulen, in Akademien und Universitäten – aber wo
lernen wir: zu uns selbst zu finden?
Marc
Aurels Anregung ist gut und schön: „Blicke in dein Inneres. Da ist die Quelle
des Guten, die niemals aufhört zu sprudeln, wenn du nicht aufhörst zu graben.“
Aber mal ganz konkret: Wie geht das, in mein Inneres zu blicken? Gibt es dafür
ein Rezept? Wie bei einem Kochkurs? Und: Kann ich das alleine? Oder brauche ich
Hilfe? Welche? Von wem? Von Ärzten? Psychologen? Philosophen? Pädagogen?
Theologen?
Ich
erinnere mich noch genau an einen zauberhaften Sommer vor acht Jahren in
Niedersachsen. In der Nähe der Nordsee gab es ein kleines Paradies mit
Trainingsräumen. Wir hatten gerade mein „Frauen-Coaching-Seminar“ beendet und
standen noch eine Weile zusammen. Eine der Frauen sagte nach einer langen Pause:
ein solches Seminar sollte im Fernsehen gezeigt werden. Damit mehr Frauen Mut
finden, sich selbst zu entwickeln.
Wenig
später flatterte der Brief einer der grössten Fernsehproduktionen auf meinen
Schreibtisch. Es war die Casting-Anfrage für ein tägliches Coaching im Fernsehen, das
ich dann übernehmen sollte. Der Gedanke gefiel mir auf Anhieb. Allein die
Umsetzung wollte mir nicht einleuchten.
Als gelernte Fernsehjournalistin konnte und kann ich mir nicht vorstellen, wie
eine seriöse Umsetzung für ein tägliches Millionenpublikum möglich sein kann. Jedoch
denke ich immer mal wieder darüber nach.
Ich
frage mich: Welche Möglichkeiten kann es geben, den inneren Weg zu sich zu
finden. Und warum ist dieser Weg so
wichtig?
Wer
sich auf die Suche nach sich selbst begibt, wird früher oder später „Das Drama
des begabten Kindes“ (2) der Psychoanalytikerin Alice Miller in den Händen
halten. Sie empfiehlt „die Wahrheit unserer einmaligen und einzigartigen
Kindheitsgeschichte emotional zu finden.“ Erst die Wahrheit befreit. Wir können
unsere Vergangenheit nicht ändern. Aber unsere Einstellungen zu dieser
Vergangenheit. Wir können aufhören, vor dem empfundenen Schmerz und dem Leid zu
fliehen. Wir können das Land der Illusionen verlassen. Die Illusionen, die uns
scheinbar in Sicherheit wiegen. Und wir können lernen, unserer Wahrheit ins
Auge zu blicken.
Wie
könnte unsere Wahrheit aussehen? Alice Miller schreibt dazu: „Die frühe
Anpassung des Säuglings führt dazu, dass die Bedürfnisse des Kindes nach Liebe,
Achtung, Echo, Verständnis, Teilnahme, Spiegelung verdrängt werden müssen.
Gleiches gilt für die Gefühlsreaktionen auf die schwerwiegenden Versagungen, was
dazu führt, dass bestimmte eigene Gefühle (wie z. B. Eifersucht, Neid, Zorn,
Verlassenheit, Ohnmacht, Angst) in der Kindheit und dann im Erwachsenenalter
nicht erlebt werden können. Dies ist umso tragischer, als es sich hier um
Menschen handelt, die an sich zu differenzierten Gefühlen fähig sind.“ (3)
Wer
sich seiner Wahrheit stellt, wird belohnt. Miller: „Es gehört zu den
Wendepunkten der Therapie, wenn Menschen zu der emotionalen Einsicht kommen,
dass all die ‚Liebe‘, die sie sich mit so viel Anstrengungen und Selbstaufgabe
erobert haben, gar nicht dem galt, der sie in Wirklichkeit waren; dass die
Bewunderung für ihre Schönheit und Leistungen der Schönheit und den Leistungen
galt und nicht eigentlich dem Kind, wie es war. Hinter der Leistung erwacht in der
Therapie das kleine einsame Kind und fragt sich: ‚Wie wäre es, wenn ich böse,
hässlich, zornig, eifersüchtig, verwirrt vor euch gestanden wäre? Wo wäre denn
dann eure Liebe gewesen? (…) Von Anfang an war ich ein kleiner Erwachsener.
Meine Fähigkeiten – wurden sie einfach missbraucht?‘“ (4)
Ich
nehme jetzt meine Gefühle ernst – ist ein Schritt aus dem inneren Gefängnis.
Wir erinnern uns daran, dass Generationen von kleinen Jungs – und manchmal auch
Mädchen – mit dem scheinbar heroischen Satz gross geworden sind: „Ein Indianer
kennt keinen Schmerz!“ In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall: Auch Indianer
kennen Schmerzen, weiss Dr. James Blunk (5) zu berichten. Er ist Anästhesist
mit Fachgebiet Schmerztherapie und er hält Vorlesungen an der Heidelberger Kinder-Uni
in Medizin. Er klärt die Kinder auf und sagt, wie wichtig das Schmerzempfinden
ist: „Alle Menschen empfinden Schmerzen. Schmerzen zu haben ist ausserdem nicht
peinlich oder gar schädlich, sondern im Gegenteil überlebenswichtig.“
Wissenschaftler
informieren zunehmend wie wichtig Gefühle sind. Zum Beispiel der Neurowissenschaftler
António Damásio in seinem Buch „Descartes' Irrtum: Fühlen, Denken und das
menschliche Gehirn“. (6) Er zeigt auf, dass Menschen, die das Zentrum für
Emotionen im Gehirn verloren haben (durch Unfall/Krankheit), die Fähigkeit
verlieren, ihr Leben zu organisieren und Entscheidungen zu treffen. (7)
Wenn
die Menschen lernen, wie wichtig ihre Gefühle sind, kann eine Erleichterung
einsetzen. Als Kind konnte die Verleugnung der Gefühle von ihm als
lebenswichtig gedeutet werden. Heute darf das Kind von damals erkennen und
erleichtert wahrnehmen was ehemals vielleicht abgewürgt werden musste. Und wie
wichtig es ist, diese Gefühle ernst zu nehmen. Und in diesem Rahmen eigene
Rechte erkennen: Schweigen und Einschüchterung – das war gestern!
Verhängnisvoll,
wenn der Weg aus dem Gestern zum Heute nicht gegangen werden kann. Wenn
Selbstgefühl fehlt und die "unangezweifelte(n) Sicherheit, dass empfundene
Gefühle und Wünsche zum eigenen Selbst gehören". (8)
Ich
sah einmal in einem Fernsehinterview eine europäische Prinzessin den folgenden
Satz sagen: „Es ist schwer seinen Weg zu finden, wenn einen niemand versteht.“
Das
war gestern.
Heute
gibt es immer mehr Menschen, die verstehen!
Liebe
Karin: danke, dass es Dich gibt! Danke für Deine Begleitung. Deine Umsichten
und Einsichten. Sonnenschein für Dich!
Herzlichst
Deine
Lilli
PS Ich
möchte noch auf das neue Buch von Felix R. Paturi aufmerksam machen, das ab dem
19. September im Handel sein wird:
„Denken unerwünscht. Wie deutsche Schulen hochbegabte Kinder traumatisieren“ Es
ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Schulsystem. http://hochbegabungspresse.blogspot.de/2012/08/hochbegabten-buchtipp-denken.html
1
Hochbegabung verstehen - Was ist anders im HB-Gehirn? http://www.coaching-fuer-hochbegabte.com/SeminarHochbegabung
2 Miller,
Alice: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst.
Eine Um- und Fortschreibung. Frankfurt am Main 1991 http://www.alice-miller.com/bucher_de.php?page=8
Eine Um- und Fortschreibung. Frankfurt am Main 1991 http://www.alice-miller.com/bucher_de.php?page=8
3 a.a.O. Seite 22
4 a.a.O. Seite 29
5 Kinder-Uni Medizin http://www.umm.uni-heidelberg.de/aktuelles/Indianer_Schmerz.pdf
7 Vgl.
Miller, S. 166
8 Miller,
Alice: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. 1.
Auflage 1979, Seite 60