Liebe Lilli,
danke für Deinen letzten Brief – wie
immer sehnsüchtig erwartet, mit Freude gelesen, in Gedanken mehrmals
beantwortet und dann doch bis auf den „letzten Moment“ vor mir hergeschoben -
weil einfach zu viel passiert.
Also fange ich meine Antwort jetzt
einfach mal in der Reihenfolge Deiner Fragen an:
Die Freundin, mit der ich mich an
das Forschungsprojekt wagen werde, ist eine hochbegabte reife Frau, Mutter,
IT-Spezialistin und gerade (nach mehreren abgeschlossenen anderen Ausbildungen
und Studien) mal wieder Fernstudentin im Fach Psychologie. Da wir beide – wie
Du ja auch – immer auf mehreren Baustellen gleichzeitig wirken, soll natürlich
auch dieses Forschungsprojekt mehrfachen Nutzen bringen. Neben neuen
Erkenntnissen aus der Welt der Hochbegabten wollen wir methodische Erfahrungen
sammeln in der Anwendung der neuen Kommunikationstechnik für Forschungszwecke
(hurra, als IT-Spezialistin kann sie mich um einiges weiter bringen, als ich es
selbst geschafft hätte) und natürlich wird sie unsere Ergebnisse auch für ihre
Bachelor-Arbeit nutzen. Zurzeit mühen wir uns in unserer knappen Freizeit um
das Forschungskonzept und sammeln Fragestellungen,
die von anderen HB-Forschern bisher nicht betrachtet wurden. Das Feld ist groß
– und der Ergebnishorizont vorläufig ganz offen.
Eine meiner aktuellen Baustellen ist
besagter Workshop „Hochbegabung verstehen – was ist anders im hochbegabten
Gehirn?“, der ja am kommenden Montag in Berlin startet. Ich habe inzwischen so
viele Anfragen von Interessenten, die diesen Termin nicht nutzen können, dass
mir Deine Idee, das Thema in einem Film zu bearbeiten, hervorragend gefällt.
Damit könnten wir tatsächlich sehr viel mehr Menschen erreichen und
wahrscheinlich auch viel mehr Erkenntnisse bereitstellen, als es die
verbreiteten „Wunderkinder“-Reportagen im TV bisher getan haben. Eine
wohltuende Ausnahme war da schon die Sendung mit Richard David Precht und Prof.
Gerald Hüther (1) am 2. September im ZDF. Zwar ist die Frage „Macht Schule
dumm?“ reichlich provokativ – klar, Quotenjagd – aber die Aussage von Prof.
Hüther, dass eigentlich jedes Kind hochbegabt ist und Förderung verdient,
bietet einen wunderbaren Einstieg in genauere Untersuchungen zu unserem Thema.
Denn das, was heute allgemein als Hochbegabung definiert wird, ist ja in
Wahrheit eher intellektuelles Hochleistungs- Potenzial. Und die Frage, welche
Rolle das Gehirn – im Unterschied zu und im Zusammenwirken mit Umwelt – bei der
Umwandlung von Potenzial in Leistung spielt, sollte doch genau so legitim sein,
wie die sportmedizinische Forschung es für die Sportförderung ist. Also: Lass
uns diesen Film machen, sobald es geht! Auch wenn er wahrscheinlich mehr Fragen
aufwirft, als er beantwortet: Fragen sind der Ursprung des Wissens!
Du fragst Dich (mit Deiner Erfahrung
als Fernsehjournalistin) welche Möglichkeiten es geben kann, den inneren Weg zu
sich selbst zu finden. Und warum dieser Weg so wichtig ist? Und Du
verweist auf Miller, Damasio und andere, die nachweisen, wie wichtig Gefühle
sind.(2) Auch ich glaube, dass es ohne diese Akzeptanz der eigenen Gefühle
keinen Weg zum eigenen, inneren Selbst geben kann. Und dabei hilft es oft, wenn
man aus Büchern oder Filmen mit der emotionalen Betroffenheit, die diese Medien
bewirken können, zu größerer Klarheit kommt.
Erst kürzlich haben mir mehrere
Hochbegabte über ihre persönlichen Gefühlskrisen berichtet. Es war beim 24.
Berliner Sommerfest von Mensa e.V. (übrigens wieder ein inspirierendes
Highlight voller kultureller und intellektueller Anregungen). In
verschiedensten Gesprächen kam wiederholt die Frage auf, wie die Nachricht von
einer erwiesenen Hochbegabung verarbeitet wurde. Und fast wörtlich
übereinstimmend erzählten meine Gesprächspartner über einen verwirrenden
Prozess:
Zuerst wollten sie es nicht glauben,
hielten das Ergebnis für einen Irrtum oder Fehler.Dann fingen sie an, sich mit dem
Thema anhand von Büchern und Blogs zu befassen und erkannten sich selbst in
vielen Schilderungen betroffen wieder. Vor allem die Beschreibungen anderer
Hochbegabter über die Probleme mit verständnislosen Eltern, Lehrern,
Altersgenossen und die erlebte Einsamkeit, den tiefgreifenden Selbstzweifel
(mit mir stimmt was nicht) als auch die fortwährende Langeweile bei
„altersgerechten“ Anforderungen schienen ein sicheres Symptom dafür zu sein,
dass das Testergebnis doch stimmen könnte. Denn: Genau diese Probleme hatten
sie selber auch!
Und dann kam die Wut: Nahezu jeder
Mensch aus dem näheren Umfeld hätte doch etwas tun müssen, um dieses Potenzial
zu fördern, statt immer nur auf Normalität, Zurückhaltung, Bescheidenheit, ja
Durchschnittlichkeit zu bestehen! Man war im Stich gelassen worden! Man hatte
schon als Kind keine Chance bekommen, man selbst zu sein. So viel Zeit und so
viel Mut waren verloren gegangen.
In einigen Gesprächen konnte ich
mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sogar Hass gegen Eltern oder Lehrer
eine Rolle spielte, jedenfalls war es mehr als nur einfache Wut. Der Vorwurf
der Unterdrückung war unüberhörbar.
Auf meine vorsichtige Gegenfrage,
welche Förderung man sich denn damals gewünscht hätte, herrschte dann doch erst
mal betretenes Schweigen. Denn das war (und ist) vielfach unklar. Was wäre denn
sinnvoll? Und ist die Erziehung in den Grundfragen menschlichen Zusammenlebens –
ich nenne das mal „soziale Basis-Kompetenzen“ – wie z. B. Anstrengung,
Ausdauer, Gründlichkeit, Fleiß usw. wirklich schädlich für die Hochbegabung?
Wohl eher nicht! Sonst gäbe es ja nicht so viele erfolgreiche Hochbegabte, die
von ihrer Hochbegabung gar nichts wissen. In Deutschland könnten etwa 1,6 Mio.
Menschen hochbegabt sein, aber wie wenige wissen das von sich? (3)
Zu welcher Förderung wären also die
Eltern, Lehrer usw. „verpflichtet“ gewesen, wenn die Hochbegabung doch gar
nicht erkannt wurde? Gerald Hüther spricht mir aus dem Herzen, wenn er
Förderung für jedes Kind verlangt, und das nicht nur in der Schule. Noch mehr:
Wir brauchen ein Ende der Beschränkung! Für die meisten Hochbegabten, ob
erkannt oder unerkannt, wäre schon der Wegfall vielfältiger Verbote oder
Hindernisse ein großer Schritt zum eigenen Selbst.
Davon konnte ich mich bei der
Einschulung meines älteren Enkels wieder mal überzeugen. Die Schulleiterin
hatte in ihrer feierlichen Begrüßungsrede symbolisch eine „Zuckertüte“ gepackt
mit allerhand nützlichen Dingen. Und unter anderem gab es auch ein paar
Süßigkeiten für die Erstklässler, wie sie sagte:“… für die bitteren Momente,
wenn mal etwas nicht gleich gelingt oder eine Note nicht so gut ausfällt“. Um
dann gleich mit deutlich erhobenem Zeigefinger in der Stimme zu ergänzen: „Aber
nicht im Unterricht naschen!“ Ich fragte mich sofort: Wen stört ein Bonbon?
Wäre es nicht geradezu sinnvoll, die Situation zu nutzen und etwas über
Traurigkeit, Enttäuschung, Trost, Durchhaltevermögen, gegenseitige Hilfe,
Lebensmittelhygiene, gesunde Ernährung und/oder die umweltschonende Entsorgung
von Bonbonpapier und vieles mehr zu
lehren?
Bei meinen Gesprächen mit den
frustrierten Hochbegabten, die erst seit kurzem über ihre Hochbegabung wussten,
spielten genau diese ungenutzten Chancen schließlich die größte Rolle: Sie
hatten schon als Kind das Vertrauen und die Hoffnung in die Hilfe durch die
Erwachsenen verloren – wie hätten sie etwas Sinnvolles von jemand lernen
können, der so sinnlose Maximen aufstellte und mit aller Autorität verfocht?
Die Liste der Bespiele war kunterbunt und ziemlich lang. Von schlechten Noten
für ein richtiges Ergebnis in der Mathearbeit „weil wir den Rechenweg noch
nicht behandelt haben“ über Betrugsunterstellungen „weil dieses Englisch nicht
dem Niveau der anderen Schüler entspricht“ bis zum Verweigern der
Gymnasialempfehlung „weil zu viele außerschulische Aktivitäten die
Konzentration beeinträchtigen“ reichte die Palette (und ist bestimmt nicht
vollständig).
Du kannst Dir vorstellen, dass ich
große Mühe hatte, mich von der Frustration nicht anstecken zu lassen. Denn ich
weiß ja, dass es auch viele richtig gute Lehrer gibt, viele engagierte Eltern
und viele Förderprogramme und Initiativen, auch für die Begabtenförderung. Dass
das alles nicht jeden erreicht ist eher eine Herausforderung, als ein Vorwurf.
Und dass man für besondere Unterstützung auch eigene Anstrengungen unternehmen
sollte, versteht sich von selbst. Über das Internet können heute die meisten
Schulen direkt Informationen zur Begabungsförderung abrufen, sie können Eltern
und Schüler dazu beraten und sogar guten Beispielen durch eigene Projekte
folgen – aber man muss ihnen eben auch die richtigen Fragen stellen und
Interesse am Thema zeigen. Einfach nur selbst zu beschließen, dass Hochbegabung
kein Thema ist, führt in die falsche Richtung.
Ich habe schließlich versucht, mit
meinen Gesprächspartnern eine ganz andere Frage zu klären. Nachdem ich
verstanden hatte, dass die Bestätigung ihrer Hochbegabung sie auch zum
Nachdenken über ihr Selbst veranlasst hatte, wollte ich wissen: „Was hätte aus
Dir werden sollen, wenn Du eher von Deiner Hochbegabung gewusst hättest? Was
glaubst Du, was Dir entgangen ist?“ Die Antworten waren sehr aufschlussreich!
Meist begannen sie tatsächlich mit „ich hätte...“ – also mit der Vorstellung,
selbst aktiv zu sein, etwas zu unternehmen, anzustreben. Das waren meist
bislang unerfüllte Wünsche, sich mit einem bestimmten Wissensgebiet intensiv zu
befassen, Kurse zu besuchen, Bildungschancen zu nutzen – die zu höherer
Qualifikation und damit besseren Berufschancen oder zu einem früheren Abschluss
geführt hätten. Klar, das hat mich nicht überrascht. Aber es ging dann immer
noch weiter, und das war für mich in dieser Dichte doch eine neue Perspektive:
„Ich hätte weniger Unsinn gemacht!“
???
Die selbstkritische Rückschau auf
trotzige Aktionen, Verweigerungen, aber auch auf Rückzugsverhalten und
Verheimlichung der eigenen Fähigkeiten! Denn jetzt begannen meine
Gesprächspartner langsam zu begreifen, dass ihre Hochbegabung in erster Linie
von ihnen selbst genutzt werden muss, ehe sie von anderen erkannt und
wertgeschätzt werden kann. Und dieses neue Gefühl der eigenen
Verantwortlichkeit für das innere
Selbst, die damit verbundene optimistische Klarheit ist für die meisten der erste Schritt einer
neuen Suche: Wie kann ich Versäumtes möglichst schnell nachholen, Lücken
schließen, gekappte Verbindungen wieder herstellen, neue Partner gewinnen? Und
welche Aufgabe ist die passende? Wo werde ich gebraucht, wie kann ich mit
meinen Fähigkeiten auch für andere nützlich sein? Dass mancher auch bei uns
Unterstützung sucht, um sich diese Fragen zu beantworten, kann nur gut sein.
Wir helfen ja gerne beim Sortieren, Orientieren, Koordinieren. Aber wir lassen
jedem sein Selbst! Und damit die Chance, zu allererst sich selbst zu fördern –
im wahrsten Sinne des Wortes – seine Schätze zu heben!
Du schreibst: Heute gibt es immer
mehr Menschen, die verstehen!
Ja! Zum Glück werden es täglich
mehr. Und schon bald wird Hochbegabung kein exotisches Thema mehr sein, sondern
so beliebt und gleichzeitig alltäglich wie Kultur und Sport – in allen
Varianten. Ich freu mich drauf.
Liebe Lilli, herzlichen Dank auch
für Deinen Tipp zu Paturis schulkritischem Buch! (4) Es hat ja bereits im
Vorfeld einiges ausgelöst – ich werde es lesen, sobald es zu haben ist.
Dir alles Gute, vor allem weiter
viel Optimismus
Herzlichst
Deine Karin
2 Miller,
Alice: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst.
Eine Um- und Fortschreibung. Frankfurt am Main 1991
Eine Um- und Fortschreibung. Frankfurt am Main 1991
4 Felix
R. Paturi „Denken unerwünscht. Wie deutsche Schulen hochbegabte Kinder
traumatisieren“ http://hochbegabungspresse.blogspot.de/2012/08/hochbegabten-buchtipp-denken.html