Liebe
Lilli,
das
war ja wieder eine tolle Rundum-Gedanken-Tour und zugleich ein brennendes
Thema in
Deiner Antwort.
Herzlichen Dank
für die Reise von Gulliver zu den Stoikern bis zu Stefan Zweig! Bei diesem
möchte ich gleich mal bleiben:
„Wer einmal zu sich selbst gefunden hat, der
kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren.“
Ich
glaube nämlich: das genau ist es, wonach so viele Hochbegabte – und nicht nur
sie – suchen. Wer bin ich, was kann ich, was bedeute ich in der Welt in der ich
lebe und was wird von mir bleiben?
Und
bei der Suche nach den Antworten auf diese Fragen geraten sie dann immer wieder
in Zweifel. Das sind nicht immer Zweifel an ihrem Wissen und Können, sondern
eben oft auch Zweifel, die aus emotionalen Dissonanzen entstehen. Darf ich mich
so gut finden? Darf ich von mir glauben, mehr zu können als andere, bin ich
nicht arrogant, wenn ich so denke? Dein Zitat von dem schwedischen Regisseur
Ingmar Bergmann mag auf viele Menschen zutreffen: „Wir sind Analphabeten, wenn es um Gefühle
geht. Wir lernen … kein Wort über die Seele. Wir sind bodenlos und ungeheuer
unwissend, wenn es um uns selbst und andere geht. Wie soll man jemals andere
verstehen, wenn man nichts über sich selbst weiß.“ Dein Coachee Alexander sagt
sinngemäß: Mein IQ hat irgendwann mal meinen EQ erschlagen.
Nun
ja, ich glaube, so schlimm ist es in Wahrheit nur selten. Es ist wohl eher ein
weit verbreitetes und inzwischen in zahlreichen wissenschaftlichen Studien
widerlegtes Klischee, dass hohe Intelligenz mit verminderter Sozialkompetenz
einhergeht. Der so genannte EQ oder die emotionale Kompetenz ist doch nur eine
Komponente der Persönlichkeit und es kann schon vorkommen, dass die kognitive
Intelligenz die emotionale Intelligenz eine Zeit lang „überholt“. Doch bei
genauem Hinsehen ist emotionale Intelligenz ja die Anwendung der allgemeinen
Intelligenz auf emotionale Sachverhalte. Aus dieser intellektuellen Leistung
entsteht dann Sozialkompetenz – oder auch nicht. Und hier komme ich zu
Gulliver:
So
wie er gefesselt am Boden liegt und sich trotz seiner überlegenen Kräfte nicht
wehrt, mag er hilflos wirken. Aber seine Kraft ist doch nicht verloren! Er ist
immer noch genau so stark wie vorher. Und die Menschen in Lilliput fühlen das
genau – deshalb haben sie ihn ja gefesselt! So wie viele von uns gefesselt
werden von moralisierenden „Lilliputanern“ mit Bescheidenheits-, Demuts-,
Zurückhaltungs- oder Unauffälligkeits-Forderungen. Und wie Gulliver wehren auch
sie sich ganz freiwillig nicht dagegen, denn sie selbst wollen doch keinem
schaden, niemanden verletzen, nicht auffallen!
Obwohl
Gulliver durchaus erkennt, dass der Lilliputanerstaat ganz genau so
funktioniert wie seine britische Heimat (sie haben ein Parlament und politische
Parteien, es gibt Fürsten und Minister, sie debattieren und intrigieren und
befehden sich. Ja, man führt auch Krieg mit Nachbarstaaten), so erscheint ihm
dies alles doch lächerlich, ja sogar verachtenswert – weil sie so winzig sind!
Manchmal
habe ich im Gespräch mit Hochbegabten den Eindruck, dass es ihnen in Bezug auf
ihre Umgebung genau so geht. Und gleichzeitig schämen sie sich dieser
Empfindungen. Denn ihre eigene „Größe“ haben sie nicht erworben oder
erarbeitet, sie ist einfach da… Und ihre eigene Welt funktioniert auch genau so
wie die der anderen, nach den gleichen – nicht nur moralischen – Grundsätzen
und Strukturen. Worin also sollten ihre Überlegenheitsgefühle eine akzeptable
Rechtfertigung finden?
Erinnerst
Du Dich, warum Gulliver bei der Kaiserin von Lilliput in Ungnade fällt? Er
löscht einen Brand in ihrem winzigen Palast mit einer natürlichen
Körperfunktion, was bei seiner Größe und dem Fassungsvermögen seiner Blase
einer Sintflut gleichkommt. Doch er kann nicht stoppen!
So
geht es wohl, wenn man seine „natürlichen Kräfte“ – im Fall der Hochbegabung
eben die Intelligenz – ungezügelt wirken lässt. Gerade unsere deutsche
Geschichte kennt ja nicht nur positive Beispiele dafür. Und es ist
verständlich, wenn selbst Hochbegabte manchmal vor ihrer eigenen Intelligenz
erschrecken, weil sie spüren, dass sie nicht „stoppen“ können. Sie wollen
helfen, verbessern, vielleicht sogar retten, was ihrer Meinung nach falsch
läuft – wissen aber genau, dass sie damit anderen bedrohlich oder schädlich
erscheinen. Daher die Hilflosigkeit gegenüber den eigenen Gefühlen. Und oft
auch der Eindruck, dass ihre gute Absicht nicht gesehen, nicht verstanden wird.
Was
aber, wenn sie ihre Kraft – also ihre kognitive und emotionale Intelligenz –
einsetzen, um diese emotionalen Dissonanzen aufzulösen?
Ich
erlebe hier in meinem Netzwerk ein wunderbares Beispiel dafür, dass das geht.
Eine junge hochintelligente Frau mit ähnlichen Problemen wie Dein Coachee
Alexander, die häufig ihre eigenen emotionalen Reaktionen und die der anderen gar
nicht wahrnimmt. Da sie Schwierigkeiten hat, Mimik und Gestik situationsbezogen
zu verstehen und ihr Intellekt vor allem kognitiv funktioniert, sucht sie immer
wieder vergeblich nach rationalen, logischen Deutungen für das Verhalten. Aber
nachdem sie das mit Hilfe einiger kluger Menschen in ihrem Umfeld und viel
eigener Analyse-Arbeit erkannt hatte, begann sie einen intensiven Lernprozess.
Sie
kam zu mir erst ziemlich am Ende dieses Prozesses mit der Frage, ob ihre
Hochbegabung „Schuld hat“ an ihrer emotionalen Hilflosigkeit. Nun, ich konnte
ihr zunächst zu dieser Frage nur gratulieren – denn Fragen fördern die
Erkenntnis. Und da sie wirklich gefragt hatte und nicht nur eine Bestätigung
ihrer vorgefassten Meinung suchte, konnte ich sie zugleich beruhigen: Es ist
keine Frage der Schuld, sondern der Chancen! Sie kann wie alle Hochbegabten die
Aufgabe des Verstehens vom Instinkt auf den Verstand übertragen – was zwar
zunächst Mühe bedeutet, dann aber auch Erleichterung bringt. So wie es Blinden
hilft, ihr Gehör viel besser zu trainieren als Sehende, können emotionale und
kognitive Intelligenz gezielt trainiert werden und somit unterschiedliche
Anteile an einer Gesamtleistung (Verständnis für mich selbst, für andere, für
die Welt…) erbringen. Nur sind sich leider viele Hochbegabte dessen gar nicht
bewusst. Ich habe mich deshalb entschlossen, einen Workshop zu dem Thema „Was
ist anders im hochbegabten Gehirn?“ anzubieten.(1) Denn wenn die Betroffenen
selbst genauer wissen, was die Hochbegabung „mit ihnen macht“, können sie ihr
auch besser gerecht werden. Sie müssen sich nicht mehr als zu große oder zu
kleine Fremdlinge in einer anderen Welt fühlen und Angst haben, mit ihrer
Besonderheit anderen Menschen gefährlich zu erscheinen. Ja: sie können lernen,
so wie Du es auch Alexander ermöglicht hast, intelligent mit ihren eigenen
Gefühlen und denen der anderen umzugehen!
Und
jetzt habe ich gleich noch eine erfreuliche Nachricht: Unser Forschungsprojekt
scheint doch mehr Interessenten zu finden als es zunächst schien.
Ich
werde gemeinsam mit einer Freiwilligen (vielleicht kommen noch mehr dazu?) bis
zum Jahresende ein Forschungskonzept entwickeln, um mit hoffentlich vielen
Hochbegabten genau dieser Frage nach der Wechselwirkung von IQ und EQ auf den
Grund zu gehen. Natürlich werden im Ergebnis auch einige Schlussfolgerungen
darüber möglich sein, welche spezifischen Anforderungen Hochbegabte an ihre
Förderung bezüglich der emotionalen und sozialen Kompetenz haben. Unsere Leser
hier sind herzlich eingeladen, sich mit ihren Ideen oder Vorschlägen für unsere
Forschung an mich zu wenden.
Und
ich bin ziemlich sicher: Wenn es immer mehr Hochbegabten gelingt, dem stoischen
Lebensgrundsatz von Marc Aurel zu folgen (2), dann werden immer weniger von
ihnen sich gezwungen fühlen, sich klein zu machen oder ihre Fähigkeiten zu
verbergen. Sie müssen allerdings nicht nur nach dem Guten in sich selbst
suchen, sondern das Gefundene dann auch zeigen. Sichtbar machen, was sie
Nützliches oder Vergnügliches oder einfach Neues für das Gute in der Welt
beitragen. Um dieses Gute in sich selbst zu finden und die „Quelle des Guten“
nicht versiegen zu lassen, sollten sie ihre Intelligenz nutzen. Dass diese
Intelligenz da ist, reicht allein nicht aus und bedeutet nicht per se etwas
„Gutes“. Sie ist aber die Chance, Gutes zu erreichen.
Mir
gefällt das Arthur Schopenhauer zugeschriebene Zitat, welches Dir Alexander
entgegengehalten hat: „Hätte wohl je ein
großer Geist sein Ziel erreichen und ein dauerhaftes Werk erschaffen können,
wenn er das hüpfende Irrlicht der öffentlichen Meinung, d.h. der Meinung
kleiner Geister, zu seinem Leitstern gemacht hätte?“ Ich glaube nämlich, dass
Hochbegabte leider zu selten nach den lohnenden Leitsternen in ihrer Umgebung
und bei sich selber suchen. Aber einfach ganz allgemein jeden Widerspruch und
jede Kritik als die ungerechtfertigte Äußerung „kleiner Geister“ abzutun ist
mit wahrer Intelligenz nicht vereinbar.
Die
Auswahl der Leitsterne jenseits von Mode und Mainstream, das Finden von
Vorbildern, Mentoren oder eben auch eines passenden Coaches, das ist eine
selbst zu erbringende Leistung, für die sich der Einsatz von Intelligenz
allemal lohnt. Gemeinsam kann dann die Quelle des Guten in jedem gefunden und
zu anhaltendem Sprudeln gebracht werden – und davor bewahrt werden, zu
verschmutzen oder gar verstopft zu werden.
Liebe
Lilli, ich freue mich jetzt auf das 24. Berliner Sommerfest von Mensa (3) und
hoffe, dass der Sommer so lange hält, was er im Moment verspricht. Da werden
wieder viele Hochbegabte miteinander Spaß haben, dabei miteinander und
voneinander lernen und sich – vielleicht zunächst unmerklich – wieder ein wenig
verändern.
Und
gleich danach geht es an die Vorbereitung für den Internationalen Tag der
Intelligenz (4), der wieder viele interessante Aktivitäten in vielen Städten zu
bieten hat. Außerdem stehen natürlich auch weitere Coaching- Aufträge an und
unser Forschungsprojekt wird in Angriff genommen. Ich werde Dich und unsere
Leser auf dem Laufenden halten.
Ach
ja, Du fragtest, wie mir denn die Queen als Bond-Girl gefallen hat? Naja, wenn
ich nicht so viel Respekt vor ihr als Persönlichkeit hätte, würde ich sie wohl
rein auf ihren Unterhaltungswert reduzieren. Und da fand ich ihre
Geburtstagsparaden passender. Eine fliegende Großmutter ist zwar ganz lustig,
aber leider zu schnell ganz unten.
Liebe
Lilli, ich hoffe, Du kannst auch noch ein wenig den Sommer genießen und trotz
Arbeit und Verpflichtungen vielleicht Deine stoischen Grundsätze ein wenig
pflegen. Ich werde das tun – und trotz einer gewissen gefühlten Ungeduld auf
Deine Antwort in aller Ruhe warten.
Sei
lieb gegrüßt bis zum nächsten Mal
Deine
Karin
2
Marc Aurel; Blicke in dein Inneres. Da ist die Quelle des Guten,
die niemals aufhört zu sprudeln, wenn du nicht aufhörst zu graben.