Liebe
Karin,
ich
finde das echt cool, wie Du die Situationen analysierst. Und ich freue mich über die Gemeinsamkeit. Forschung ist auch meine Leidenschaft.
Liebe
Karin, ich habe einen Traum. Und ich erinnere mich an andere Menschen, die
Träume hatten. Ich erinnere an den 28. August 1963 als ein afroamerikanischer
Mann [1] vor dem Lincoln Memorial in Washington D.C. eine Rede hielt. Er sprach von der
Ungerechtigkeit, die Menschen mit schwarzer Hautfarbe erleiden müssen. Er
sprach davon, dass „unsere müden Leiber nach langer Reise
in den Motels an den Landstraßen und den Hotels der großen Städte keine
Unterkunft finden.“ Er sprach davon, dass „unsere Kinder ihrer Freiheit und
Würde beraubt werden durch Zeichen, auf denen steht: ‚Nur für Weiße‘.
Damals sagte dieser afroamerikanischer Mann: „Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von
Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter
miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.“
Knapp 50 Jahre später sehen wir, dass
aus diesem Traum Wirklichkeit geworden ist.
Ein anderer Traum, den Menschen
träumten, ging schneller in Erfüllung. Nach langem, zähem Ringen. Aber dann
fast schon über Nacht. Ich denke an die Zeit der atomaren Hochrüstung und an
die Friedensdekade von 1980. Ich denke an die wöchentlichen Friedensgebete in
der Nikolaikirche [2] .
Und ich denke an die Montagsdemonstrationen in Leipzig – später auch in anderen
Städten wie etwa in Dresden, Magdeburg, Rostock, Potsdam und Schwerin. Das
Ziel: „Wir sind ein Volk!“ 1990 fiel die Mauer.
Was ist das Ziel der Hochbegabten? Wir
wissen es noch nicht. Wir werden daran arbeiten, es in Erfahrung zu bringen.
Aber wir haben schon einmal Dein (vorläufiges) Ziel für die Hochbegabten: „Ich wünsche mir zunächst einfach nur mehr sachkundiges
Verständnis für ‚die Hochbegabten‘. Damit meine ich tatsächlich mehr Wissen
über das Phänomen Hochbegabung in den Köpfen der Allgemeinheit.“
Und nun sage ich Dir meine Ziele:
Ich
stelle mir vor: Die Hochbegabten wissen, dass sie hochbegabt sind.
Ich
stelle mir vor: Die Hochbegabten wertschätzen, dass sie hochbegabt.
Ich
stelle mir vor: Die Hochbegabten holen ihre Hochbegabung aus dem Versteck.
Ich
stelle mir vor: Die Hochbegabten leben ihre Hochbegabung.
Ich
stelle mir vor: Menschen können entspannt mit sich und anderen umgehen: mit der
wertgeschätzten Individualität des jeweils anderen. Mit Talenten, Begabungen,
Charakterstärken.
Paulo
Coelho schreibt in seinem Buch ‚Der Dämon und Fräulein Prym‘:
„Sie hatte
herausgefunden, dass es zwei Dinge gibt, die einen Menschen daran hindern,
seine Träume zu verwirklichen: der Glaube, sie seien ohnehin unerfüllbar, oder
wenn diese durch eine unerwartete Drehung des Schicksalsrades plötzlich doch
erfüllbar werden. In solchen Augenblicken bekommt man Angst vor einem Weg, von
dem man nicht weiß, wohin er führt, vor einem Leben voller unbekannter
Herausforderungen, davor, dass vertraute Dinge für immer verschwinden könnten.“
Überwinden
wir unsere Angst vor der eigenen Grösse. Frei nach Hermann Hesse bedeutet dies, dass wir keine Angst
haben, wenn wir mit uns selbst „einig“ sind. Holen wir unseren Mut aus dem
Keller. Holen wir unsere Stärke aus dem Trockner und unser Selbstbewusstsein
vom Dachboden. Wenn wir wollen und uns zu uns bekennen, werden wir siegen.
Selbst dann, wenn wir zwischendurch mal hinfallen. Wir müssen einfach wieder
aufstehen. Wie sagte es Jawaharlal
Nehru? „Wir scheitern nur, wenn wir unsere Ideale,
Ziele und Prinzipien vergessen.“ Setzen wir uns Ziele. Holen wir die Träume aus
unserem Tagebuch. Und erinnern wir uns an unsere Prinzipien.
Wer sagt eigentlich,
dass das nicht möglich ist?
Barack Obama
hat kein Monopol
auf „Yes, we can!“.
Menschen mit einem
IQ > 130 werden vielleicht nicht für die Interessen der Hochbegabten auf die
Strasse gehen. Aber sie demonstrieren schon. Und sie erheben ihre Stimme. Für
ihre Ziele und gegen Ungerechtigkeiten. Diese Demonstrationen spielen sich z.
B. im Internet ab. In Blogs, bei Twitter und in Foren. Und Du kannst förmlich
sehen, wie sich immer mehr hochbegabte Menschen anschliessen, um ihre
Interessen und Rechte ins Licht zu rücken.
Als Saskia-Marjanna
Schulz und ich im Juni 2006 das Forum „Hochbegabung - Drama oder Erfolgsstory
?“[3] eröffneten, waren wir eine Handvoll Menschen, die sich über dieses Thema
austauschen wollten. Bis dahin liefen die Hochbegabung betreffenden Fragen per
Mail oder Anruf bei uns ein – wir recherchierten die Antworten. Gaben die Tipps
und Hilfen dann weiter. Nach einer Weile dachten wir: Das geht auch einfacher.
Und riefen dieses Forum ins Leben. Da die Mitgliedschaft zwar kostenfrei ist,
aber nur wenige sich für das Thema interessierten, blieben wir erst einmal eine
klitzekleine Gruppe. Ein paar Menschen aus dem Rheinland, aus der Gegend um
Bremen und aus Baden-Württemberg.
Ich
träumte davon, dass wir 100 sein würden. Wow, 100 Menschen, die sich über
Hochbegabung austauschen können. Wie kühn! So dachte ich damals.
Und
dann sprach man plötzlich über das Forum. Es hiess: Hier kann man Menschen
fragen, die ähnliche Erfahrungen gemacht
haben. Hier kann man Berichte lesen, schreiben und erkennen: Es geht nicht nur
mir so. Auch die etwas Schüchternen wollten mitdiskutieren. Hochbegabte
schrieben uns: „Ich habe im Forum meine geistige Heimat gefunden. Endlich!“ Luxemburg
kam hinzu. Und Menschen aus den Niederlanden, aus der Schweiz.
In diesen Tagen im
Juni 2012 sind es rund 12.500 Beiträge und ich denke, bald werden es 3.000 Menschen sein: aus allen Kontinenten
dieser Erde.
Und aus Dialog wurde ein Multilog.
Multilog. Gefällt mir gut. Du beschreibst das so
schön. Danke dafür.
Die Frage
„Was wollen Menschen und wie kann man das erreichen?“ hat mich mein ganzes
Leben begleitet. Schon als Schülerin habe ich erste Fragebogen-Aktionen
durchgeführt und mit anderen über die Ergebnisse diskutiert.
Um die
Fragen „Was wollen Hochbegabte? Wo drückt der Schuh? Und wie stellen wir eine
Situation her, von der diese Menschen träumen?“ angemessen beantworten zu
können, werden wir weitere professionelle Hilfe brauchen. Ich denke da an eine
Universität in Zusammenarbeit mit einem privaten Forschungsinstitut.
Deshalb
wird eine der nächsten Fragen sein: Wer können die möglichen Partner und Geldgeber
sein? Staatliche Organisationen, europäische Einrichtungen, Stiftungen,
Wirtschaftsunternehmen, Privatpersonen? Welche Interessen haben diese Personen
und Institutionen, sich mit unseren Zielen auseinander zu setzen? Welche Eigeninteressen
werden sie verfolgen? Inwieweit sind diese mit unseren kompatibel? Wo sind
unsere Gemeinsamkeiten? Usw. usw. usw.
Wir
dürfen bei Partnern, Freunden und Verbündeten anfragen. Wir werden neue
Kontakte suchen und finden. Wir werden also Gespräche führen, um das
Forschungsbudget auf die Beine zu stellen.
Und
uns noch einmal an Paulo Coelho erinnern, der im Alchimist sagte: „Erst die Möglichkeit, einen Traum zu verwirklichen, macht unser
Leben lebenswert.“
Ich freue mich so, dass
Dir der Dorf-Gedanke gefällt. Danke dafür. Wir werden wohl mit einem Pilotprojekt
starten und dann in Serie gehen.
Image.
Image. Image. Springen wir doch einfach mal ins Jahr 2022. Es mag sein, dass es
so ist wie Du sagst: die Hochbegabung ‚braucht‘ dann kein besonderes Image
mehr. Aber sie wird eins ‚haben‘. Wie jede Person, Gruppe, jede Stadt, jedes
Land, jeder Kontinent ein Image hat. Image als Gesamteindruck – vor allem
basierend auf den Eindrücken, die Frauen und Männer von diesem Thema haben.
Ist
es heute nicht so, dass Menschen eher verhalten reagieren angesichts der Hochbegabung?
Möglicherweise werden sie sich daran erinnern, dass andere in der Schule besser
waren. Dass andere den tollen Job bekommen haben oder die Aufmerksamkeit der
Sympathieträger. Hochbegabt werden sie hören – und Hochleistung werden sie denken.
Und dann kommt auch noch Neid ins Spiel. Klar: Da sind Menschen, die etwas haben,
das man selbst gerne hätte. Und meint, es nicht bekommen zu können.
Schönheiten,
Multimillionäre und Hochbegabte werden ob ihrer Begabung bzw. ihres Zustandes oft
beneidet. Das ist für die Betroffenen nur selten angenehm. Vielmehr kann das
auf Dauer sehr unangenehm sein. Was tun diese Menschen deshalb? Sie
„verstecken“ ihre Begabungen und Gaben.
Dies
mag ein Schutz sein. Es mag aber auch so sein, dass es ihnen gefällt,
bescheiden aufzutreten. Einfach weil sie sich wohl fühlen in Jeans, schwarzem
Rolli und Turnschuhen.
Der
Zeitgeist ‚Bescheidenheit‘ ist nicht neu. Der Berufsverband Deutscher Markt-
und Sozialforscher e.V. sagte bereits in
den 70er Jahren das Lebensgefühl ‚Bescheidenheit‘
voraus. Die deutsche VOGUE startet die 90er Jahre mit einer umfassenden
Reportage zur neuen Bescheidenheit. Und viele folgten ihr.
Hochbegabte
Menschen mit ihrer feinen Wahrnehmung für Zeitströme mögen sich schon seit
längerem an diesem Geist angeschlossen fühlen. Und so kann es sein, dass ihr
Sensorium bewusst oder unbewusst auf dieser Welle surft. Nicht
Selbstverleugnung ist dann das Thema, nicht “Licht-unter-den-Scheffel-stellen“
sondern ganz einfach der Tanz in der Zukunftsmusik.
Ich
denke, ich muss da meinen Geist etwas weiter aufmachen und über die Frage ‚Kann
es sein, dass viele erwachsene
Hochbegabte ihre Talente ablehnen?‘ hinauswachsen. Vielleicht ist auch beides
richtig: Talentablehnung UND Zeitgeisterleben?
Natürlich
ist es nicht wirklich lustig, von anderen Menschen beneidet zu werden. Wer sich
als hochbegabt geoutet hat, wird nicht selten mit Spott und Häme verfolgt, wenn
mal nicht alles so läuft wie geplant. Frei nach dem Motto: Hochbegabte MÜSSEN
auch Hochleister sein und sowieso alles wissen und können. IMMER.
Und
gerade diese Polemik möchte man vermeiden angesichts von Pannen, Pech und
Problemen. Wenn schon kein Mitgefühl – dann wenigstens nicht noch diese
Schadenfreude.
Also
lieber schweigen? Nun ja: Auch Multimillionäre kommen zumeist nicht daher und legen
ihre Kontoauszüge auf den Tisch. Deshalb denke ich: Es kommt darauf an. Wer
stark, selbstsicher und unerschütterlich ist (wer ist das schon?) – der mag es
sich eher gönnen als der, der etwas schüchtern ist, hochsensibel und dessen
Grad der Hochbegabung nicht mit dem seiner Eloquenz korreliert. Es kommt auf
die Menschen an und wie sie mit Situationen umgehen können und wollen. Ich bin
jetzt gespannt, was unsere Studie dazu sagen wird.
Tja,
die Studie. Manchmal denke ich schon: Das klingt alles ganz schön verrückt mit
diesem Traum und dieser Studie. Wenn es nun anders läuft als ich denke?
Und
dann erinnere ich mich daran, dass ich einmal eine Studie ehrenamtlich in einer
Woche realisiert habe. Einschliesslich Präsentation beim OB von Köln. Mit Hilfe
von 50 Managern, die ebenfalls ehrenamtlich gearbeitet haben. Einen Tag lang
blieben 50 Chefsessel in Köln leer. Weil die Jungs und Mädels mit mir auf die
Strasse gegangen sind. Die haben sogar erst noch eine Schulung über sich
ergehen lassen müssen. Bevor sie hinaus durften: Passantenbefragung für einen
guten Zweck. Mir geht heute noch das Herz auf, wenn ich daran denke. Und mit
all diesen wunderbaren Menschen haben wir doch tatsächlich an einem Tag in Köln
auf der Schildergasse 1000 Passanten befragt. Nachts haben wir die Fragebogen
kontrolliert. Und beim ersten Hahnenschrei waren wir schon im Rechenzentrum der
Uni. Abends hatten wir die Ergebnisse. Und meine Partnerin durfte im Rathaus
die Ergebnisse diskutieren.
Ach,
ich denke: Das geht schon. Mit der Uni und dem Forschungsinstitut und all den
Menschen, die jetzt schon an unserer Seite sind.
Der Philosoph Stanislaw Lem sagte
einmal: „Das Fliegen wird erst möglich, wenn zuvor vom Fliegen
geträumt wurde.“ Träumen wir also und fiebern wir dem Start entgegen - dem Ready for take-off!
Freust Du Dich auch so auf die EM? Oder lieber Wannsee? Dir wünsche ich eine spannende und eine entspannte
Zeit.
Herzliche
Grüsse
Deine
Lilli
Lilli
[1] Martin Luther King Jr. erhielt 1964 den
Friedensnobelpreis http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1964/
[2] Der 9. Oktober 1989 aus Sicht der Nikolaikirche
[3] Internetforum Hochbegabung - Drama oder Erfolgsstory ? https://www.xing.com/net/hochbegabung