Liebe Lilli,
danke für Deinen wieder sehr
gehaltvollen Brief! Du bist – trotz Deiner Belastung im Beruf – mit Deinem
Denken unserer Zeit einfach immer wieder ein ganzes Stück voraus.
Ich frage
mich, ob wir jemals genügend Zeit und engagierte Partner finden werden, um auch
nur einen Bruchteil Deiner Ideen einer Verwirklichung näher zu bringen. Aber
vielleicht hilft ja der Glaube an Wunder tatsächlich, in der realen Welt etwas
zu bewegen, was ohne diesen Glauben einfach keiner tun würde. Du fragst:
Was ist unser Ziel?
Was wünschen sich die Hochbegabten?
Was ist Dein Ziel für die Hochbegabten?
Nun, die letzte Frage kann
ich Dir zwar nur vorläufig, aber sehr realitätsnah beantworten: Ich wünsche mir
zunächst einfach nur mehr sachkundiges Verständnis für „die Hochbegabten“.
Damit meine ich tatsächlich mehr Wissen über das Phänomen Hochbegabung in den
Köpfen der Allgemeinheit. Zu oft wird der Begriff in zu vielen verschwommenen
Bedeutungen gebraucht. Und viel zu oft muss „die Hochbegabung“ herhalten als
vermeintlicher Verursacher von Konflikten, Charakterschwächen oder
Leistungsdefiziten. Gleichzeitig gibt es die weit verbreitete Auffassung, dass
eigentlich jeder irgendwie mit irgendwas hoch begabt ist – man müsste es nur
herauskriegen, zulassen, entwickeln. Und dabei habe der IQ praktisch keine
Bedeutung.
Mein Ziel für die wirklichen
Hochbegabten ist also, dass sie selbst sich mehr wissenschaftlich fundiertes
Wissen über diesen wesentlichen Faktor ihrer Persönlichkeit aneignen und dann
zur Verbreitung dieses Wissens in der Öffentlichkeit aktiv beitragen. Dazu
gehört natürlich auch, dass sie bereitwillig Auskunft geben über ihre eigenen
Erfahrungen mit ihrer Begabung. Also - diese auch als Fakt akzeptieren. Dazu
kann und will ich beitragen und dafür will ich weitere Partner gewinnen. Gut,
dass Du schon dazu gehörst.
Deine beiden ersten Fragen
können nur gemeinschaftlich beantwortet werden. Über „unser Ziel“ sind wir
beide schon im Dialog. Wir werden darüber immer wieder weiter diskutieren. Für
den Anfang hast Du das sehr schön als Einleitung für diesen Blog formuliert:
Miteinander ins Gespräch kommen über „was man wollen kann“. Mit „man“ sind in
unserem Zusammenhang ja nicht nur die Hochbegabten gemeint. Um
herauszubekommen, was sie sich wünschen, was alles sie „wollen können“ brauchen
wir den Dialog. Nein: Dialog ist zu wenig, „Multilog“ wäre besser. Wie kriegen
wir das hin? Dein Vorschlag: Mit Hilfe einer empirischen Studie.
So wie Du könnte auch ich mir
die ersten Schritte vorstellen: Ein Forschungsdesign entwickeln und dann erst
einmal fragen und zuhören. Informationen sammeln. Auswerten. Analysieren.
Präsentieren. Zur Diskussion stellen. Und, wenn wir uns auf die wesentlichen
Ziele geeinigt haben: Szenarien entwerfen. Und dann los.
Wir werden entweder eine Flut
unterschiedlichster Gedanken, Wünsche, Ziele erhalten oder eine kleine Zahl
ganz eindeutiger gemeinsamer Absichten – ich bin gespannt. Denn die Frage was
wohl geschehen würde, wenn die Probleme der Welt von Hochbegabten gelöst
würden, hat ja schon zu vielen heißen Diskussionen geführt und war die zentrale
Gründungsidee von Mensa, dem internationalen Verein der Hochbegabten.[1]
Du fragst Dich (und mich)
wieder einmal: Welches Image hat Hochbegabung?
Kann es wirklich sein, dass
viele erwachsene Hochbegabte ihre Talente ablehnen?
Ja, nach meiner Erfahrung
kommt das sogar ziemlich häufig vor – bei denen, die diese Begabung haben.
Andere (mit weniger Talenten und ohne Hochbegabung) hingegen hätten sie gern,
und dichten sie sich selber an. Paradoxerweise lassen sich die wirklich
hochbegabten Erwachsenen sehr leicht von moralisierenden Bescheidenheits-Mahnern
verunsichern und zweifeln ständig an sich selbst, während die selbsternannten
und in Wahrheit nicht Hochbegabten von derartigen Ermahnungen und
Selbstzweifeln in der Regel unberührt bleiben.
Wer aber sind die Moralhüter,
die von anderen Demut, Bescheidenheit, ja Selbstverleugnung verlangen? Liebe
Lilli, Du weißt es auch, weil Du es mehrfach selbst erlebt hast: Das sind nicht
nur die bigotten oder intoleranten (Lehr-)Amtsinhaber der ganz alten Schule.
Nein, das sind häufig auch „die anderen Hochbegabten“. Ich bin immer wieder
überrascht und erschrocken, wenn mir diese Form der Rechthaberei bei
hochintelligenten Menschen begegnet. Andererseits ist dies nur ein weiterer
Beweis dafür, dass Intelligenz und Charakter zwei verschiedene Sachen sind. Aus
Furcht davor, für arrogant gehalten zu werden, seine Fähigkeiten verleugnen?
Nein, genau das kann Hochbegabten nicht helfen, den eigenen Weg zu sich selbst
zu finden!
Deshalb glaube ich auch, dass
wir in dem von Dir erträumten „Dorf“ dringend die Hilfe von Experten wie etwa
Soziologen, Psychologen, Coaches, Pädagogen, Theologen usw. brauchen, wenn von
Hochbegabten aus allen Berufsgruppen wirklich etwas Sinnvolles entstehen
soll.
Auch dann noch bleibt
reichlich Potenzial für die Marke „Fortschritt durch Konflikte“.
Stimmt: Ich könnte meine
helle Freude daran haben. Denn viele Hochbegabte gleichzeitig am gleichen Ort –
das gibt Stoff für viele wissenschaftliche Studien! Und es wird eine grandiose
Herausforderung für die eigene Konflikt- und Stress-Toleranz!
Der Aphorismus von Sir Peter
Ustinov: „Ich bin sehr glücklich – weil ich oft im Leben die Möglichkeit zum
Unglücklichsein hatte und sie einfach nicht angenommen habe“ könnte das
grundlegende Forschungs- und Trainingsprogramm für ein solches Projekt sein.
Das Ergebnis könnte dann wohl
werden: „Ich bin sehr glücklich – weil ich oft im Leben die Möglichkeit zum
Glücklichsein hatte und sie einfach angenommen habe.“
Du fragst: Was können wir tun
für das Image der Hochbegabung? Auch ich meine: gemeinsam sehr viel. Und ich
fange noch etwas bescheidener an als Du: Zunächst sollte jeder einzelne
Hochbegabte sich dazu durchringen, das „Wunder“ dieser Gabe (denn das ist es!)
als Realität anzuerkennen. Dabei kommt es darauf an, eine realistische
Bewertung zu meistern. Also nicht überbewerten und mit Genialität gleichsetzen
– aber auch nicht abwerten und zur unbedeutenden, zur vernachlässigenden
Randerscheinung erklären. Und vor allem: Nicht mit dem Wert der Persönlichkeit
gleichsetzen!
In diesem Zusammenhang denke
ich immer wieder gern mit Erich Fromm: Es ist etwas anderes, eine Hochbegabung
zu haben, als hochbegabt zu sein.[2]
Und um das zu verstehen, ist
Selbsterfahrung der sinnvollste Weg – aber er ist mühsamer als nur die Summe
der erinnerten Erfahrung zu reproduzieren. Auch hierbei kann Erich Fromm
hilfreich sein.[3]
Wenn das gelingt, wird es
auch leichter, den Nutzen der Hochbegabung für die Menschen aufzuzeigen. Denn
der besteht meiner Meinung nach nicht so sehr in vermeintlichem „besser wissen“
(also bezahlter oder unbezahlter Ratgeberfunktion), sondern eher darin, dass
schneller, komplexer, detaillierter gedacht wird und damit nachhaltigere
Lösungsvarianten für zahlreiche Probleme früher als bisher gefunden werden
können. Innovation beginnt ja bekanntlich mit Ideen, die man erst mal haben
muss. Beratung ist dann eher die Verbreitung der Ideen. Dafür muss man nicht
unbedingt hochbegabt sein. Aber es hilft sehr, wenn man die Ideen richtig
verstanden hat – und nicht meint, sie erst mal auf „normal“ schrumpfen zu
müssen ehe sie für andere verwendbar werden. Also: Vertrauen haben
Und dann die „Kritische Masse“ arbeiten
lassen. Diese kritische Masse scheint sich gerade zu entwickeln: Mensa in
Deutschland e.V. hat gerade die magische
Mitgliederzahl von Zehntausend (10186 im April 2012) überschritten, immer mehr
Menschen engagieren sich in Fördervereinen und Stiftungen zur Begabungsförderung
und Deutschland wird von Bildungs- und Wissenschaftspolitikern oft mahnend als
das „Land der Ideen“ präsentiert. Damit meinen sie, wir sollten an unsere
Tradition als Land der Dichter und Denker anknüpfen und sie beziehen sich dabei
gern auf technische und technologische Spitzenleistungen. Mit den
gesellschaftlichen Reformen geht es eher schwerfällig und ungeschickt voran.
Aber genau das ist eben durch die kritische Masse zu ändern! Wenn wir endlich
aufhören, uns über mangelnde Akzeptanz einer scheinbaren Randgruppe zu beklagen
und wirklich alle dazu übergehen, jedes Talent dort zu fördern und zu nutzen,
wo es vorhanden ist, dann lässt sich die Hochbegabung vom Makel der elitären
Absonderlichkeit ganz schnell reinigen.
Wenn wir zwei also mal wieder
darüber philosophieren wollen, wie sich das Image der Hochbegabung bis zum Jahr
2022 gewandelt haben wird, kommt mir der Gedanke, dass sie dann gar kein
besonderes Image mehr braucht: Sie wird (ich hoffe es sehr!) als so „normal“
gelten, wie sie ist. Schließlich sind wir alle schon heute gleichzeitig
Mitglieder der verschiedensten ehemaligen „Randgruppen“ z. B. gleichzeitig
Frauen, Mütter, Akademikerinnen, Best Agers, Autorinnen,
Verkehrsteilnehmerinnen, Kundinnen, Bloggerinnen, Partnerinnen, Freundinnen,
usw. – die heute alle schon keine Randgruppen mehr sind. Und das wird so
weitergehen und auch die Hochbegabung erreichen. Je mehr die Menschheit über
den Menschen weiß, umso weniger brauchen wir die heute noch übliche Vermessung
des Menschen in statistisch begründeten Kategorien. Dann können wir jeden so
akzeptieren wie er ist und jeder kann mit dem was er ist auch nützlich für alle
sein.
Und ehe jetzt vielleicht bei
unseren Lesern ein Proteststurm ausbricht:
Das hat uns Albert Einstein
gesagt: „Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung
von vorn herein ausgeschlossen erschien.“ Und Du zitierst ja auch David
Ben-Gurion: „Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist.“
Hoffentlich gibt der Sommer
recht vielen unserer Leser und auch uns wieder einmal Gelegenheit, das
Verhältnis zu sich selbst, zu den anderen und vielleicht auch zum Thema
Hochbegabung zu überdenken. Erholung und Entspannung kann sich ja auch beim
Denken einstellen, denn: Wohlbehagen ermattet den Geist, Schwierigkeiten
erziehen und kräftigen ihn. Francesco Petrarca, Italienischer Dichter
*20-Jul-1304, † 18-Jul-1374
Ich wünsche Dir angenehme
Denk-Aufgaben, schöne Sonnentage und viel Erfolg bei allem was Dir und uns
bevorsteht. Und ich freue mich auf Deine nächsten Gedanken.
Lass es Dir gut gehen, wann
immer Du kannst.
Deine
Karin
[2]
Erich Fromm: Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen einer neuen
Gesellschaft 1976. ISBN 3-423-36103-4
[3]
Erich Fromm: Vom Haben zum Sein: Wege und Irrwege der Selbsterfahrung,
Ullstein, 2005. ISBN 3-548-36775-5