Liebe Karin,
danke für Dein Plädoyer für eine „IQ-Partei“. Ich
empfinde Dich wahrlich als eine Quelle der Intelligenz, Fürsorglichkeit,
Analyse, Kreativität und Vision. Danke dafür.
Was ist
unser Ziel?
Was wünschen
sich die Hochbegabten?
Was ist
Dein Ziel für die Hochbegabten?
Wie können
wir diese Ziele definieren?
Mit Hilfe
einer empirischen Studie?
So in etwa
könnte ich mir die ersten Schritte vorstellen: Ein Forschungsdesign entwickeln
und dann erst einmal fragen und zuhören. Informationen sammeln. Auswerten.
Analysieren. Präsentieren. Zur Diskussion stellen. Und, wenn wir uns auf die
wesentlichen Ziele geeinigt haben: Szenarien entwerfen. Und dann los.
Ich kann es
mir sehr schön vorstellen, dies mit Dir und „meinen“ Hochbegabten gemeinsam zu
tun. Und wer weiss: vielleicht ist dann auch die Gründung einer IQ-Partei
dabei. Oder ein Silicon Valley? Oder ein „Dorf“?
Ein „Dorf“
als eine Einheit, in der hochbegabte Menschen mit ihrer individuellen
Vielschichtigkeit, Buntheit und ihrem Begabungspotential zusammen kommen. Sich
einbringen, voneinander lernen und partizipieren. Hier können Labore,
Werkstätten und Think Tanks entstehen, die dann für die Politik, Wirtschaft und
Verwaltung arbeiten werden. Ein Service-Pool und ein Rückzugsort auf Zeit. Nicht
nur in der Freizeit: Im Garten arbeiten statt am Schreibtisch. Kirschkonfitüre
kochen statt Latein lehren. Bretter bohren statt Buchhaltung büffeln. Leben
lernen. Auftanken. Besinnen.
Und anstelle
von Wellnessparks werden die Hochbegabten ihre eigene Wellnesswelt zaubern.
Zurück zur Natur? Jean-Jacques Rousseau? Ich liebe Diana Vreeland für den
Gedanken: „Gib den Menschen nicht das, was sie wollen. Sondern das, wovon sie
nie zu träumen wagten.“
Wir werden inzwischen täglich
überflutet mit Burnout-Nachrichten und Hintergrundinformationen aus Studien wie
dieser „Jeder für sich und keiner fürs Ganze? Warum wir ein neues
Führungsverständnis in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft
brauchen“[1]
Hier finde ich meine Eindrücke der letzten Jahre bestätigt. Das Autorenteam
schreibt: Das Top-Management (darunter Minister, Staatssekretäre,
Verfassungsrichter, Vorstandsmitglieder führender deutscher Unternehmen,
Präsidenten von Forschungseinrichtungen …[2]) fühlt
sich unter Druck, überfordert und allein gelassen. Als Ursachen sind vor allem
die folgenden identifiziert worden:
- "Steigende Komplexität … Führungskräfte verlieren die Kontrolle.
- Unzureichende Reflexion … Führungskräfte schaffen sich zu wenig Raum für Regeneration und Reflexion. Werte als Kompass scheinen an Bedeutung zu gewinnen.
- Getrennte Sektoren … Strukturelle und kulturelle Barrieren verhindern die nötige Zusammenarbeit … Stattdessen herrscht wechselseitiges Desinteresse, teilweise sogar Antipathie.“[3]
In
einem noch näher zu definierenden „Dorf“ könnte mit Hilfe von Experten wie etwa
Soziologen, Psychologen, Coaches, Pädagogen, Theologen – und besonders von
Hochbegabten aus allen Berufsgruppen
Sinnhaftes entstehen. Ziele, die alle Beteiligte auf eine neue Ebene der
Lebensqualität erheben.
Ich
stelle mir vor: eine Herausforderung zum Verlieben. Mit reichlich Potential für
die Marke „Fortschritt
durch Konflikte“. Ich denke: Du wirst Deine helle Freude daran haben.
Was sagte
einst David Ben-Gurion, der erste Premierminister Israels: „Wer nicht an Wunder
glaubt, der ist kein Realist.“
Und bis es
soweit ist, frage ich mich: Welches Image hat Hochbegabung?
Kann es
wirklich sein, dass viele erwachsene Hochbegabte ihre Talente ablehnen? Und
wenn ja: warum? Was ist die Ursache? Sind wir wieder einmal - noch immer?
– bei der Selbstwertschätzung? Und wie
kann diese in angenehmere Bahnen geleitet werden?
Wenn ich an
Menschen mit besonderen „Ausstattungen“ denke, erinnere ich vor allem zwei
Gruppen von Frauen, die ganz offensichtlich mit Besonderem gesegnet sind:
Top-Models und Top-Wissenschaftlerinnen.
Die einen
können sich mit ihrem Körper besonders gut in Szene setzen. Die anderen mit
ihrem Geist. Nun könnte man meinen: beide Gruppen sind mit einem beachtlichen
Selbstbewusstsein ausgestattet.
Das
Gegenteil ist nach meinen Erfahrungen der Fall. Diese wunderschönen Geschöpfe
schauten immerzu auf das, was weniger attraktiv an ihnen war. Und auf all das,
was sie nicht wussten und konnten. Nur ganz selten habe ich bei einem „ganz
normalen“ Menschen einen solchen Mangel an Selbstsicherheit erlebt.
Und
ähnliches kann ich von den Top-Naturwissenschaftlerinnen sagen, die ich kennen
gelernt habe: Gehemmt, verklemmt, schüchtern. Zwar konnte eine von ihnen
erzählen: „Ich habe mir da so ein Spezialgebiet erarbeitet. Ausser mir gibt es
nur noch zwei Menschen auf der Welt, die so tief in die Materie eingedrungen
sind.“ Doch kaum hat sie dies im Kreise der ebenfalls so hochbegabten
Kolleginnen kund getan – da schlägt sie auch schon die Hände vors Gesicht und
schämt sich. Schämt sich, dass sie die Wahrheit gesagt hat. Eine Wahrheit, die
jeder Mensch in der einschlägigen Fachliteratur nachlesen kann.
Die Spitze eines
Eisberges?
Selbstredend
gibt es Models und hochbegabte Naturwissenschaftlerinnen mit einem gesunden
Selbstbewusstsein, einer natürlichen Sicherheit im Auftreten und dem Hauch von
Souveränität, der so ungemein sympathisch wirkt.
Sind es
die, die wir aus Talkshows kennen? Weil sie gelernt haben, sich gut
auszudrücken? Sind es die, die Rhetorik-Bücher lesen, Seminare in „freier Rede“
besuchen? Oder sind es ganz einfach Mitglieder bei den Toastmasters[4]?
Toastmasters? Wer oder was ist/sind Toastmasters?
Die Meisterredner/innen
sagen über ihre Organisation: „Toastmasters International (TMI) ist eine
nichtkommerzielle Bildungsorganisation, die ihren Mitgliedern und der
Allgemeinheit ein Trainingsprogramm zur Verbesserung der Kommunikations- und
Führungsfähigkeiten anbietet. Die bedeutsamste Komponente dieses Programms
stellt ein "Redetraining für jedefrau und jedermann" dar, mit dessen
Hilfe die Scheu vor Reden in kleinem und großem Kreis überwunden und
grundlegende Fertigkeiten der öffentlichen Rede erarbeitet werden können.“[5]
In
Deutschland ist Toastmasters in jeder grösseren Stadt vertreten. Wie etwa in
Bochum, Bonn, Bremen. Selbstredend in Berlin, Dresden, München, Leipzig, Köln,
Frankfurt.
Nicht
auszudenken, wenn alle Hochbegabten nicht nur brillant denken, sondern diese bewundernswerten
Gedanken auch noch in eindrucksvolle Reden packen würden. Wie wäre es denn,
wenn wir den Aphorismus von Sir Peter Ustinov: „Ich
bin sehr glücklich – weil ich oft im Leben die Möglichkeit zum Unglücklichsein
hatte und sie einfach nicht angenommen habe.“ kosmetisch bearbeiten würden?
Der
Gedanke könnte dann wohl so klingen: „Ich bin sehr glücklich – weil ich oft im
Leben die Möglichkeit zum Glücklichsein hatte und sie einfach angenommen habe.“
Die Kunst der „freien Rede“ und die
Selbsterlaubnis, sie zu praktizieren, kann eine Chance zu mehr Wohlbefinden sein.
Warum ist
die Welt um uns herum nur verhalten begeistert, wenn es um Hochbegabung geht?
Ist diese Welt ein Spiegel von uns? Nach der Methode: Wie man in den Wald
hinein ruft – so schallt es zurück. Weil Hochbegabte ihre Begabung selten
angemessen würdigen und lieben (jawohl: lieben!) – reagiert auch die Umwelt
sehr verhalten, wenn nicht ablehnend auf Hochbegabung? Du fragst in Deiner
letzten Mail: „Vielleicht kommt die Ablehnung des Themas Hochbegabung einfach
aus der Unsicherheit und fehlendem Wissen?“ Und weiter:
„Zwar
bemühen sich inzwischen viele Kollegen von uns, auch engagierte Eltern,
Neurologen, Pädagogen und Psychologen um mehr Verständnis in der
Öffentlichkeit, aber scheinbar halten sich unsere gemeinsamen Erfolge noch in
engen Grenzen. Aber vielleicht sind wir auch nur – was typisch für uns wäre(?)
– zu ungeduldig?“
Menschen
interessieren sich – freiwillig – für das, was sie irgendwie berührt. Warum
sollten sich Menschen, die nicht hochbegabt sind, besonders positiv durch
Hochbegabte berührt fühlen? Mal abgesehen von denen, die Familienmitglieder,
Freunde oder Bekannte haben, die zu dieser Gruppe zählen.
Nach meinen
Erfahrungen neigen die meisten Menschen eher dazu, ein bescheidenes
Selbstbewusstsein zu haben. Und dann auch noch das sensible Thema
„Intelligenz“. Fast jeder Mensch hat zu Hause, in der Schule oder in der
Ausbildung schon einmal erlebt, wie an seiner Intelligenz gezweifelt wurde.
Selbst Hochbegabte haben solche Erinnerungen.
Und jetzt
stellen wir uns die alltägliche Situation vor: Mensch A (normal begabt) trifft
auf Mensch B (hochbegabt) – beide mit einem bescheidenen Selbstbewusstsein.
Wenn der Mensch A erlebt, dass Mensch B hochbegabt ist, fühlt er sich wahrscheinlich
auf der Stelle weniger intelligent. Und damit weniger wertvoll. Und damit
unsicherer. Wer sich so unwohl fühlt, dass er sich zum Handeln gezwungen sieht,
wird fliehen oder kämpfen. Der Kampf: Klein-David gegen Goliath. Um diese
ungleiche Situation etwas erträglicher zu machen, wird David bemüht sein,
Goliath auf ein Normalmass runter zubekommen. Ausgang ungewiss? Erinnern wir uns an Kurt Tucholsky: „Der Vorteil der
Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist
schon schwieriger!“
Was können
wir tun für das Image der Hochbegabung?
Sehr viel.
Fangen wir
mal ganz bescheiden an. Und konzentrieren wir uns z. B. auf zwei Aspekte:
- Den Nutzen der Hochbegabung für die Menschen aufzeigen.
- Vertrauen haben und die „Kritische Masse“ arbeiten lassen.
Zu 1. Zum
Beispiel: Hochbegabte organisieren sich in Zirkeln/Gruppen und setzen sich für
andere ein. Wie kann das aussehen? Von der Hausaufgabenbetreuung über Nachhilfe
bis zu Red-Adair-Teams[6]
für Selbständige und kleinere Unternehmen, die sich keine Kreativteams erlauben
können. Gegen zunächst mal kleineres Honorar und/oder ehrenamtlich. Das kann
ausgebaut werden. Und hier können interdisziplinäre Beratungsteams daraus
werden. Interessant für alle Hochbegabte, die sich in ihren Jobs nicht wirklich
ausgefüllt fühlen und gerne ein zweites Standbein aufbauen wollen.
Zu 2. Wir
erinnern uns an das grossartige Buch von Patricia Aburdene und John Naisbitt:
Megatrends: Frauen[7].
Darin wird u.a. das Phänomen der „Kritischen Masse“ beschrieben. Der Begriff
„Kritische Masse“, bekannt aus der Kernphysik und Kerntechnik, wird auf
gesellschaftliche Phänomene übertragen. Nach dieser Aussage gehen die Autoren
davon aus: wenn eine bestimmte Prozentzahl von Menschen eine Idee – ein
Verhalten, eine Einstellung – durch Einstellungen und Verhalten unterstützt,
wird es nach dem Erreichen der „Kritische Masse“ zu einer signifikanten
Veränderung in der Gesellschaft kommen. Als Aburdene/Naisbitt 1993 ihr Buch in
Deutschland veröffentlichten, sprachen sie von einem erkennbaren FRAUENTREND in
den USA. Expert/innen folgerten: Nach zehn Jahren wird dieser Trend Deutschland
erreicht haben.
Meine
Seminarteilnehmerinnen und die Menschen, die meine Vorträge in den 90er Jahren
an Universitäten erlebt haben, erinnern sich vielleicht daran, dass ich
prognostizierte: Spätestens ab dem Jahr 2010 haben wir eine deutsche
Bundeskanzlerin! Das Gelächter habe ich heute noch im Ohr: „Die Rheinländerin
macht mal wieder Witze.“ Ich gebe es ja zu: Ich habe mich ein wenig verrechnet:
Frau Merkel kam schon 2005 an die Macht.
Warum nicht
mal darüber philosophieren, wie sich das Image der Hochbegabung bis zum Jahr
2022 gewandelt haben wird? Und dann gute Ideen haben und sie realisieren! Wie
man gute Ideen erkennt? Ganz einfach. Das hat uns Albert Einstein doch schon
gesagt: „Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung
von vorn herein ausgeschlossen erschien.“
Der Sommer
scheint dieses Jahr nicht wirklich motiviert zu sein, uns die Sonne zu schicken. Ob wir ihm – dem
Sommer – mal ein Coaching empfehlen sollten?
Ich
verabschiede mich für heute mit einem lyrischen Sonnenstrahl von Christian
Morgenstern: „Jeder Menschenkopf ist eine Sonne, und seine Gedanken sind die
überall hindringenden unsichtbaren Strahlen. Könnten wir sie, wie bei der
Sonne, mit unseren leiblichen Augen schauen, so würden sie uns in ihrer
Gesamtheit erscheinen wie ein großer Lichtkreis, an dessen Ausdehnung und
Leuchtkraft leicht zu erkennen wäre, einen Stern wievielter Größe wir vor uns
haben.“
Take care of yourself!
Herzlichst
Deine
Lilli
[2] a.a.O., Seite 4
[3] a.a.O.
[4] Toastmasters International: http://www.toastmasters.org/default.aspx , Toastmasters Europa http://www.district59.org/ , Toastmasters Deutschland www.toastmasters.de
[6] In Anlehnung an den
berühmten „Feuerwehrmann“, der gerufen wurde, wenn die Not besonders gross war http://www.wdr.de/tv/quarks/sendungsbeitraege/2009/0922/005_feuer.jsp
[7] Aburdene, Patricia und John Naisbitt: Megatrends:
Frauen.