Liebe Lilli,
Herzlichen Dank für Deine spannende Antwort. Ja, das sind
faszinierende Themen: Moral, Gehorsam, Mut, Kraft und: Freiheit! Ich meine die
Freiheit des Denkens, aber auch des Handelns.
Der liebe alte Kant hat uns da ein
Thema hinterlassen, was weit über das Verständnis seiner Zeit hinaus ging. (Von
Hochbegabung war damals wahrscheinlich gar nicht die Rede, und seine Talente
auszuleben hatte wohl auch nicht jeder die Chance).
Der Gedanke war von Hannah Arendt: „Wir sind auch für
unseren Gehorsam verantwortlich.“ Und das ist die geniale Zusammenfassung
einer der schwierigsten Aufgaben im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung! Wie
das bei Hochbegabten häufig vorkommt, zweifeln sie nämlich auch an der
Notwendigkeit von Gehorsam schon sehr früh. In der Folge entwickeln sie nicht
selten eine allgemeine Ablehnung von Autorität und Widerstand gegen
Autoritäten.
Und schon tun sich
die ersten moralischen Fragen auf: Ist Ungehorsam anständig oder unanständig?
Ist jede Form von Gehorsam ein Zeichen von Verantwortungslosigkeit? Hannah
Arendt sagt: „Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen“ (1), als wäre es ein Gut, was
einem zugesprochen würde – je nach Gutdünken von wem? Wer entscheidet darüber,
ob wir gehorchen dürfen, müssen, können?
Ich freue mich
gelegentlich an der tiefen Weisheit des alten Volksliedes:
Die Gedanken sind
frei
Die
Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten?
Sie fliegen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
mit Pulver und Blei.
Die Gedanken sind frei!
Ich denke, was ich will
und was mich beglücket,
doch alles in der Still',
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei!
Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
ich spotte der Pein
und menschlicher Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!
Drum will ich auf immer
den Sorgen entsagen,
und will mich auch nimmer
mit Grillen mehr plagen.
Man kann ja im Herzen
stets lachen und scherzen
und denken dabei:
Die Gedanken sind frei! (2)
Wenigstens das
haben doch alle Philosophen gekonnt und getan, sie haben gedacht! Dass nicht jeder
seine Gedanken für sich behalten hat, ist für uns heute ein großer Vorteil: Wir
müssen nicht jeden Gedanken selbst neu finden, sondern können die der Vordenker
auseinandernehmen – und akzeptieren oder widerlegen. Auch das ist nämlich so
eine moralische Frage: Wieso glaubt ein Mensch wie Kant, ausgerechnet er könne
ein Prinzip finden, das für alle Menschen gleichermaßen gilt? Ist das nicht
anmaßend und somit unmoralisch? Ist er denn berufen, anderen Prinzipien zu
geben? Wer hätte ihn dazu berufen können?
Arme Sophie (3)
(danke Dir, liebe Lilli für den Video- Tipp), da muss sie nun für ihr Referat
ausgerechnet mit ihrem persönlichen Dilemma, ihrer Liebe zu einem verheirateten
Mann, als Feuerprobe für Kants Moralphilosophie herhalten. Dabei ist Liebe doch
eine Naturgewalt! Und die Ehe ist es nicht – sie ist eine zivilisatorische
„Errungenschaft“, zu deren Rechtfertigung ganze Gesetzbücher und Ideologien
existieren.
Wie schön, wenn
man darüber nur philosophieren darf und keine Lösung suchen muss! Denn für
moralische Konflikte gibt es nun mal keine Lösung, die für alle Menschen
gleichermaßen die richtige oder die
falsche Lösung wäre! Und zum Glück muss auch Sophie nur für sich selbst
entscheiden: Verzicht oder bewusster Regelverstoß betreffen ihr Verhalten – und
je nachdem wie sie sich entscheidet, wird sie entweder viel Kraft und Mut
brauchen oder ziemlich viel leiden müssen. Aber immer wird das, was sie danach
erlebt, auf ihre Entscheidung zurückzuführen sein. Sie wird sich selbst sagen
können: Ich habe meine Entscheidung getroffen – und dazu stehe ich, auch wenn
es nicht jeder versteht oder akzeptiert.
Auch mir hat die Geschichte sehr gut gefallen, denn sie
zeigt durch ihre Dialoge neue Perspektiven auf und verhilft so vielleicht
manchen Menschen zu mehr Weisheit.
Liebe Lilli, Du hast ja soooo Recht! Ent-Spannung setzt
Kräfte frei!
Tatsächlich kenne ich auch verschiedene Varianten, sich mit
Tiefenentspannung in den Alpha-Theta- Zustand der inneren Klarheit zu
versetzen. Ein von mir sehr geschätzter Freund und Kollege hat mit einem
Partner zusammen dazu gerade ein sehr praktisches Buch herausgebracht: Erlebe
Deine Kraft. Lass Dein Unterbewusstsein für Dich arbeiten und erreiche alle
Deine Ziele (4).
Das ist etwas für diejenigen, die verstehen möchten, was da
passiert. Und die sicher sein möchten, dass sie nicht von jemand anderem
manipuliert werden – sondern tatsächlich selbst der Kapitän ihres
Lebensschiffes sind. Es ist kein Chaka – Zauber- Brimborium, sondern einfach
die bewusste Nutzung des eigenen Unterbewusstseins FÜR und nicht GEGEN die
eigene Natur.
Denn dort landen ja schließlich auch bei unseren
Hochbegabten meist die moralischen Kraftfresser: Im Unterbewusstsein. Und der
Gedächtnis-Speicher der vielen anerzogenen „Du darfst nicht“, „Man muss doch“,
„Wenn nun jeder“ usw. enthält bei Hochbegabten ein ganz besonders umfangreiches
Archiv von (gefälligst zu vermeidenden) Fehler- Risiken. Klar, dass einem diese
Fehler bei anderen eher auffallen – aber man möchte ja auch selbst möglichst
keine Fehler machen. Also lieber erst noch mal
überlegen…
Und dazu braucht man natürlich außer Zeit auch Kraft: Unser
Gehirn verbraucht schon im „Ruhezustand“ (wie geht der? – es gibt keinen „OFF“-
Knopf!) 20% der Energie und 50% des Sauerstoffs vom Gesamthaushalt unseres
Organismus! Kein Wunder also, wenn uns auch vom Denken manchmal die Kraft
ausgeht.
Wie Du hatte ich vor kurzem auch so ein wundersames
Erlebnis: Ich war unterwegs zu einem Vorstellungsgespräch bei einem Konzern in
Leverkusen. Wie immer klappte die Bahnverbindung nicht zuverlässig und ich
musste einen Umweg mit der S-Bahn von Köln fahren. Und wie ich so frustriert
aus dem Fenster schaue und versuche, keine unangenehme Stimmung aufkommen zu
lassen, fährt da draußen (scheinbar) ein Plakat vorbei: Ein Mädchengesicht und
ganz groß der Schriftzug: „Du bist gut!“
Ha, danke dem Erfinder! Und dem Gestalter! Und der
Philosophie dahinter!
Denn das ist es, was wir uns immer wieder sagen sollten: Wir
sind gut!
Das bedeutet keineswegs „besser als andere“, sondern einfach
nur „gut“. Und es gelang mir, genau das zu tun, was Du vorschlägst:
„Schlagen wir dem Stress doch einfach mal ein ‚Schnippchen’!
Und das tun wir in erster Linie mit einer neuen Einstellung und Haltung zu uns
und unserem Leben.“
Georg Bernard Shaw mag zwar Recht haben: „Der Mensch ist das
einzige Lebewesen, das von sich eine schlechte Meinung hat.“ Aber es geht ja
auch anders! Da der Mensch nun mal unausweichlich eine Meinung von sich selber
haben muss, warum sollte dies nicht eine gute Meinung sein?
Man muss dazu nicht unbedingt eine „Größe“ sein, ein VIP
oder eine exotische Berühmtheit. Die „kleinen“ Heldentaten des Alltags machen
uns viel häufiger zu guten Menschen, als uns das bewusst ist.
Egal, ob wir Blut spenden, Nachhilfe-Unterricht geben oder
einfach dem Kollegen aus einer verflixten Computerfalle heraushelfen – wir
können so vielen andern Menschen nützlich sein. Und deshalb habe ich die Idee,
Deinem Song für Hochbegabte eine weitere Strophe hinzuzufügen:
Ich war nie wirklich klein, das hab ich nur gedacht.
So wie ich bin, bin ich o.k. Die Klarheit gibt mir Kraft.
Ich mach mich nicht mehr klein, ich zeige was ich kann.
Weil es so viel zu tun gibt, pack ich es mutig an.
IQ kann dabei helfen, ich nutze was ich hab –
und gebe so das Beste für alle andern ab.
Die andern können auch sehr viel, ich nehme gerne an.
Was andere so leisten ist auch sehr gut getan
Niemand wird klein geredet – ob schön, ob jung, ob klug
Wir brauchen jeder jeden, zu tun gibt es genug.
So kann ein jeder wachsen nach seinem Potenzial
Was er für andre leistet, ist seine eigne Wahl!
(Naja, eine Dichterin wird aus mir wohl doch nicht werden)
Die Linden sind auch nachts grün
Wahrheit
Fotos: Karin Rasmussen
Liebe Lilli, das Weihnachtsfest und der Jahreswechsel rücken
ungestüm auf uns zu und damit ein weiterer Höhepunkt: Die Mensa-Silvesterparty
in Berlin mit jetzt schon mehr als 300 Gästen aus ganz Europa (5) und
zahlreichen interessanten, amüsanten, inspirierenden und: verbindenden(!)
Veranstaltungen. Ich freu mich riesig! Vielleicht treffe ich sogar ein paar von
unseren LeserInnen?
Und Dir wünsche ich eine besinnliche, entspannte, freudvolle
Weihnachtspause. Wir werden uns wohl erst im Neuen Jahr wieder unserem
Gedankenaustausch widmen. Das ist ganz gut. So können wir mal in Ruhe Revue passieren lassen, was uns schon
alles bewegt hat, Bilanz über die bisherigen Fortschritte ziehen und auswählen,
was wir in unser Buch packen.
Lass es Dir also gut gehen.
Sei herzlich umarmt.
Und Danke, dass es Dich gibt.
Alles Liebe
Deine Karin
1 zit. nach: Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest.
Eine Rundfunksendung aus dem Jahre 1964,
2 Volkslied, ca. 1790 bearbeitet von Hoffmann von
Fallersleben, 1841 (Erstdruck 1842)
3 Kant, Sophie und der kategorische Imperativ
http://www.br.de/fernsehen/br-alpha/sendungen/kant-fuer-anfaenger/der-kategorische-imperativ/kant-imperativ-01-ethik-pflicht100.html