Liebe Lilli,
herzlichen Dank für Deine inspirierende Antwort! Trotz
Deiner knappen Zeit hast Du mir wieder
wunderbare Anregungen zum Lesen
gegeben. Und:
Ich gestehe, Du hast mich mit Deinem Zitat „Herr,
gib mir die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit,
das Unabänderliche zu ertragen und die Weisheit, zwischen diesen beiden Dingen
die rechte Unterscheidung zu treffen“ des Franz von Assisi genau im richtigen
Moment „erwischt“. Manchmal muss auch ich – so wie es Anselm Bilgri empfiehlt
(1), zu diesem Stoßgebet Zuflucht nehmen. Denn trotz Unmengen an Büchern – von
wissenschaftlich bis Ratgeber- Banalitäten
- gibt es scheinbar seit Jahrtausenden auf die Frage nach dem ICH keine
endgültige Antwort. Die wird es auch wahrscheinlich gar nicht geben, weil ja
unser Gehirn immer wieder alles was wir erleben neu bewertet, also auch ständig
ein neues Selbstbild schafft. Und was wir denken, wird eben immer auch von
unseren Emotionen bestimmt.
Wenn ich z. B.
in einem dreistündigen Vortrag nichts wirklich Neues erfahre, dann fange ich
schon nach kurzer Zeit an, meiner Frustration zu folgen und den Referenten in
Gedanken zu kritisieren, zu korrigieren oder sogar abzuwerten. Dann habe ich
ein Fremdbild von ihm für mich geschaffen – und Fremdbilder sind leider viel
stabiler als Selbstbilder. Er wird es also in Zukunft sehr viel schwerer haben,
meine Anerkennung zu gewinnen. Selbst wenn ich mich bemühe, Entschuldigungen
für ihn (oder besser: für diesen einen mangelhaften Auftritt) zu finden, ist
doch die Erinnerung daran immer mit dem unguten Gefühl verbunden, dass es für
mich vergeudete Zeit war. Und es würde noch schlimmer werden, wenn ich sofort
meinem inneren Impuls nachgeben und meine Kritik laut äußern würde. Dann wäre
ich trotzdem frustriert – und er wahrscheinlich auch: Ich hätte ihn vorgeführt,
sein Image beschädigt und vielleicht sogar dafür gesorgt, dass der weitere
Verlauf seines Vortrages noch mangelhafter ausfiele oder auch andere Zuhörer
jetzt frustriert wären.
Ich gestehe,
auch mein Denken wird von Emotionen gesteuert. Schon die Wahrnehmung unterliegt
diesem Filter – weil unser Gehirn gar nicht trennen kann, es nimmt immer
gleichzeitig Fakten und Gefühle „wahr“. Insofern können Emotionen auch gar
nicht falsch sein, denn die Wahrnehmung macht Erlebtes für uns zur Wahrheit.
Mag sein, dass mancher darin eine Schwäche sieht. Ich nicht! Ich glaube, es ist
wohlfeil, den Menschen „Schwächen“ zu bescheinigen, und diese so zusammen zu
fassen.
Wer entscheidet
denn, was eine Schwäche ist? Letztendlich doch nur wir selbst, wenn wir uns die
Schuld dafür geben etwas nicht geschafft zu haben, was anderen (scheinbar)
gelingt. Vielleicht haben die anderen Zuhörer den Vortrag gar nicht als
mangelhaft wahrgenommen, also auch gar keinen Grund zur Kritik und damit zur
Zurückhaltung. Vielleicht müssen sie sich gar nicht bemühen, „Dinge zu ertragen
die sie nicht ändern können“ (denn der Vortrag würde ja durch Kritik nicht
besser und bleibt gerade deshalb schwer erträglich)? Vielleicht ist meine Schwäche,
meine enttäuschte Erwartung nur mit Anstrengung ertragen zu können, gerade
deshalb für andere gar nicht nachvollziehbar. Und vielleicht ist das, was ich
dem Referenten gern als „Schwäche“ angekreidet hätte, gar keine?
Du fragst Dich
vielleicht, warum mich das so beschäftigt. Nun, es ist eine Erfahrung, die ich
mit vielen Hochbegabten teile: Der innere Wunsch, Dinge richtig zu stellen,
andere zu korrigieren oder zu kritisieren, entspringt oft nicht nur einem
besseren Wissen, sondern auch einer guten Absicht. Wir wollen helfen,
optimieren, aufklären, weiterbilden. Das ist doch eine gute Absicht? Warum ist
dann die Wirkung häufig weniger gut? Klar, wir haben den anderen verletzt.
Obwohl wir das gar nicht wollten, fühlt er/sie sich vorgeführt, blamiert,
angegriffen. Und er/sie zweifelt an unserer guten Absicht, denn der Nutzen
unserer Kritik ist nicht sofort erkennbar. Besonders dann nicht, wenn wir in
unseren Äußerungen auch gleich noch unsere Emotionen mit verpacken.
Ein aggressiver
oder herablassender Ton oder Blick, eine belehrende Geste – und schon haben wir
trotz bester Absicht Schaden angerichtet. Und das Paradox dabei: Wenn jemand
mit uns so umgeht, empfinden wir selbst es auch genau so. Wir sind verletzt und
frustriert. Und vergessen dabei völlig, dass auch der andere in diesem Moment
überzeugt ist, es „besser zu wissen“.
Ich gestehe, es
fällt mir immer noch schwer, nur auf jene Fragen zu antworten, die gestellt
werden. Ich weiß so viel mehr, als gefragt wird. Und ich bin so überzeugt, dass
meine Antworten helfen würden – wenn nur einer fragen würde! Aber: Wer oder was
stellt uns Ziele? Woher können wir wissen, was wir fragen sollen?
Mich freut die besonders gute Nachricht von Peter Olsson:
„Jeder Mensch hat ein besonderes Talent.“ (2) Und natürlich dürfen sich
darüber auch die Hochbegabten freuen. Was Sven Henkel von der Universität St.
Gallen (3) sagt, ist wohl der Schlüssel für vielfältige Lösungen:
„Jeder hat aufgrund seiner Anlagen das Potenzial, in
ausgewählten Bereichen Außergewöhnliches zu leisten.“ Und wenn er empfiehlt: „
Darum solltest du deine Kompetenzen kennen, auf sie setzen und sie gezielt
ausbauen“ – dann muss man sich bewusst machen, dass bei den Hochbegabten die
außergewöhnlichen Leistungen eben im Bereich des Denkens (nicht des Wissens!)
zu erwarten sind. Denn genau das ist ihr besonderes Talent. Sie können
besonders gut, nämlich kompetent, zweifeln. Sie können Widersprüche ebenso gut
erkennen wie Muster. Sie sind schnell im Wahrnehmen und schaffen es dabei
besonders gut, komplexe Zusammenhänge zu erfassen. Sie können zwar auf viele
Fragen antworten, aber noch besser können sie Fragen stellen. Hinterfragen, was
als sicher angenommen wird.
Ich gestehe, ich weiß nicht wirklich, ob es in unseren
Unternehmen schon die Funktion des hauptamtlichen Fragestellers gibt. Und
Forschungsprozesse orientieren sich wahrscheinlich auch eher an erkannten
praktischen Problemen als an spannenden Fragen (im Umkehrschluss ist natürlich
jedes ungelöste Problem eine spannende Frage – nur gibt es noch viel mehr
spannende Fragen, zu denen wir noch gar kein Problem erkannt haben und jede
Lösung wirft bekanntlich neue Probleme auf, die spannende Fragen
enthalten). Also sind selbst hochbegabte
Forscher immer wieder gezwungen, das oben zitierte Stoßgebet in die Welt zu
schicken – denn die Kraft, Dinge zu ändern ist ziemlich ungleich verteilt.
Ich gestehe, ich wünsche mir sehr häufig mehr Verbündete,
die den Wert des „reinen“ Denkens zu schätzen wissen, auch wenn ein
unmittelbarer praktischer Nutzen nicht sofort erkennbar ist. Die Spaß daran
haben, in Gedankenspielen eine „bessere“ Welt nicht nur zu wünschen, sondern zu
bauen. Und das nicht in der virtuellen Welt, sondern in der realen! In meinem
Workshop „Hochbegabung verstehen - Was ist
anders im hochbegabten Gehirn?“ ist deutlich geworden, dass ich mit diesem
Wunsch nicht alleine bin. Die Teilnehmer an diesem Workshop haben mit ihren
Erfahrungsberichten bestätigt: beim
Denken sollte möglichst selten Angst, Langeweile oder Frust aufkommen –
Neugier, Spaß, auch Ärger über Unzulänglichkeiten können viel besser Optimismus
und Kreativität auslösen und zur Erschließung der besonderen Talente von
Hochbegabten führen. Und dann wächst bestimmt auch das Netzwerk mit anderen
Talenten zusammen, mit Ingenieuren, Handwerkern, Künstlern, Organisatoren,
Forschern oder Archivaren – eben mit den vielfältigen besonderen Talenten der
Anderen. Dann müssen wir uns nicht mehr gegenseitig kritisieren und
korrigieren, weil irgendjemand die Erwartungen einer „normalen“ (das ist ein sehr
ehrliches Wort, denn es meint NORMiert) Umwelt nicht erfüllt, sondern wir
können die Selbstbilder ebenso wie die Fremdbilder an den Talenten, Potenzialen
und Kompetenzen der Menschen orientieren. Dann werden wir toleranter,
gerechter, humaner miteinander umgehen können und deshalb auch weniger negative
Emotionen und Gedanken haben. Ganz zu schweigen von unserem Verhalten!
Ich gestehe, das ist der Traum der mich antreibt. Und es ist
auch das, was ich am besten kann – Verständnis und Akzeptanz dort entstehen
lassen, wo bisher Kritik und Ablehnung vorherrschen. Allerdings, auch das
gestehe ich, kostet mich das immer wieder Energie. Eben die Kraft, die man braucht, um Dinge zu ändern, die man
ändern kann.
Liebe Lilli, da habe ich jetzt eine Geständnis-Liste fabriziert,
die irgendwie ziemlich dramatisch erscheint. Dabei ist es eigentlich nur eine
Beschreibung meines ganz normalen Alltags. Und der ist ganz gewiss nicht
außergewöhnlich – ich weiß, dass es auch anderen Menschen ähnlich geht.
Aber, wie gesagt, Du hast mich mit dem Thema Gelassenheit,
Kraft und Weisheit gerade im passenden Moment erwischt. Ich arbeite daran! Und
mir scheint, ich werde besser. Aber bestimmt ist das eine Lebensaufgabe (nobody is perfect before died). Und ich bin Dir sehr
dankbar, dass Du mich daran erinnert hast.
Du hast in den nächsten Wochen besonders viele Baustellen im
wahrsten Sinne des Wortes zu bearbeiten. Ich bin in dieser Zeit auch ziemlich
viel unterwegs und außerdem häufig mit meiner eigenen Weiterbildung
beschäftigt. Es wird ein ereignisreicher Herbst. Lass Dir deshalb ruhig etwas
Zeit mit einer Antwort und denk daran, dass auch Deine Kräfte immer mal wieder
aufgefrischt werden wollen.
Ich bin in Gedanken bei Dir und wünsche Dir bei all Deinen
Unternehmungen Erfolg und Freude. Und gelegentlich Zeit für einen
Herbstspaziergang.
Sei umarmt
Deine Karin