Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Sonntag, 30. September 2012

Was Hochbegabte nach dem Testergebnis wissen dürfen


Liebe Karin,

Deine Worte sind wieder einmal so wunderbar erhellend! Und von so liebevoller wie  intelligenter Stimmung. 

Ich gestehe: Deine Erlebnisse bei dem 24. Berliner Sommerfest von Mensa e.V. sind mir wieder einmal so richtig unter die Haut gegangen. Du schreibst so plastisch. Als sei ich selbst dabei gewesen.

Dabei ist mir bewusst geworden, dass Deine Erlebnisse genau die Themen beschreiben, die mich aktuell beschäftigt haben. Es sind Erkenntnisse von Menschen, die es sich ebenfalls zur Aufgabe gemacht haben, andere Menschen auf ihrem Weg zu begleiten und die ihr Erleben in Büchern festgehalten haben. Auf den ersten Blick scheinen es sehr unterschiedliche Persönlichkeiten zu sein – auf den zweiten Blick erkennt man die Gemeinsamkeiten.

Ich spreche von Anselm Bilgri, Sven Henkel und von Peter Olsson. Der gebürtige Schwede Olsson ist Berater von Prominenten. Er hat mit vielen Spitzensportlern, Stars und Top-Managern gearbeitet  wie z.B. Oliver Bierhoff, Boris Becker und Katja Flint. In seinem Buch „Erkenne Dein Talent“ (1) interviewt er Prof. Dr. Sven Henkel von der Universität St. Gallen (2) und Vice Director des dort angesiedelten Center of Customer Insight. Henkel forscht in den Bereichen Kommunikation und Personalentwicklung. 

Anselm Bilgri studierte Philosophie und Theologie und war Prior im Kloster Andechs. Er schrieb u.a. das Buch: „Entrümple deinen Geist. Wie man zum Wesentlichen vordringt.“ (3) 2004 verliess er das Kloster und gründete das ‚Zentrum für Unternehmenskultur‘ in München. (4)

Du sprichst zu Beginn Deiner Erzählung von einem ‚verwirrenden Prozess‘, den die Hochbegabten nach dem IQ-Testergebnis durchlaufenden haben. Und Du beendest Deinen Gedankengang mit: „Aber wir lassen jedem sein Selbst! Und damit die Chance, zu allererst sich selbst zu fördern – im wahrsten Sinne des Wortes – seine Schätze zu heben!“ 

Genau dieses SELBST und der Umgang damit ist auch das Thema von Anselm Bilgri, Sven Henkel und Peter Olsson. Jenen Autoren, die ich gerade wieder gelesen habe.

Was sagen sie uns? Anselm Bilgri hält den „unverstellten Blick auf das eigene Ich“  für NÖTIG. Er erinnert an  die alten Griechen (Thales von Milet?). Und ihre Aufforderung über dem Eingang des Apollotempels von Delphi: „Erkenne dich selbst!“

Ich frage Dich: Würde der Satz da stehen, wenn es so einfach wäre, sich selbst zu erkennen? Würden wir heute noch darüber reden?

Der ehemalige Prior bringt es auf das Problem der Selbsterkennung auf den Punkt und nennt den Schuldigen: Es ist der Schweinehund. Der innere, der uns die Probleme macht. 

In Anselm Bilgris Sprache heisst die Erklärung dazu: „In meiner klösterlichen Ausbildung, dem Noviziat, habe ich mich mit den ersten Mönchen, den Wüstenvätern, beschäftigt. Faszinierend ist heute noch bei der Lektüre ihrer Biografien und Aphorismen ihr Kampf mit sich selbst. Heute würde man salopp sagen: mit ihrem inneren Schweinehund.“ Die Analogie aus dem Tierreich erklärt er so: es sind die „ungeordneten Gedanken und Gefühle“, die die Menschen bedrängen.

Als Tipp empfiehlt Anselm Bilgri ein – wie er es hier nennt – „originelles Gebet“:

  • „Gib mir die Gelassenheit, Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann.
  • Gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann.
  • Gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“


Denn: „Das Tun und Umsetzen mit Tatkraft und Verstand sind die eigentliche Antwort auf die Frage: Wer bin ich? (…) Erkenne die Möglichkeiten, die in dir sind. Entdecke deine Potentiale und wecke sie. Fördere deine eigene Entwicklung!“

Es ist das, was auch Du gesagt hast im Kreise Deiner Hochbegabten: „Denn jetzt begannen meine Gesprächspartner langsam zu begreifen, dass ihre Hochbegabung in erster Linie von ihnen selbst genutzt werden muss, ehe sie von anderen erkannt und wertgeschätzt werden kann.“

Und so klingt es auch bei Peter Olsson: „Ich bin überzeugt  davon, dass jeder von uns eine besondere Gabe hat. Es ist eine Gabe, die darauf wartet, entdeckt  und entwickelt zu werden. Oft wird Talent als eine Art Mitgift verstanden, aus der sich Kapital in Form von Ruhm und Reichtum schlagen lässt. Aber darum geht es nicht. Talent ist viel mehr als das. Es ist das, was unsere individuelle Existenz ausmacht, es beeinflusst unser Leben und entscheidet darüber wie glücklich und erfüllt dieses sein wird. Wenn Talent sich mit Hingabe und Leidenschaft verbündet, wird dies in den meisten Fällen mit einer bestimmten Form des Gelingens belohnt werden.“

Die besonders gute Nachricht von Peter Olsson: „Jeder Mensch hat ein besonders Talent.“  Und darüber dürfen sich auch die Menschen freuen, deren IQ nicht die Marke von 130 erreicht hat.

Das hohe Lied vom Talent, das jede/r hat, singt auch Sven Henkel von der Universität St. Gallen: „Jeder hat aufgrund seiner Anlagen das Potenzial, in ausgewählten Bereichen Aussergewöhnliches zu leisten.“ Und er empfiehlt: „ Darum solltest du deine Kompetenzen kennen, auf sie setzen und gezielt ausbauen.“  Mit anderen Worten: Erkenne Dich – und mach‘ das Beste daraus!

Seine Tipps?

  • Ehrlich zu sich selbst sein!
  • Sich selbst  fragen: „Wovon träume ich wirklich? Wo entstehen bei mir Gefühle? Was macht mich glücklich? Welche Themen treiben mich an?“
  • Sein Geheimtipp: „Aber du musst deinem Herzen folgen – und deinem Talent. Die Kraft, die du brauchst, bekommst du nicht aus dem Kopf.“


Liebe Karin, fällt Dir etwas auf? Dies sind unsere Themen: Den richtigen Traum träumen. Auf die Gefühle achten. Und neben dem Kopf auch auf das Herz hören.

Mich freut es sehr – sehr - , wie Du Dich begeistern kannst: „Also: Lass uns diesen Film machen, sobald es geht!“ Während mein Herz schon mal erste Szenarien entwickelt, sitzt mein Kopf noch im Büro und arbeitet die Hausaufgaben ab. Er ist zuverlässig. Und deshalb können wir sicher sein: Er kommt nach.

An Deine Forscherfreundin sende ich mit Kopf und Herz dankbare Grüsse. Ich kann es kaum erwarten, das Forschungsdesign zu lesen.

Und Dir wünsche ich Freude und Erfolg für Deinen nächsten Termin am 05.10.:  „Hochbegabung verstehen - Was ist anders im hochbegabten Gehirn?“ (5)

Fühle Dich herzlich umarmt!
Deine Lilli


5 Am 05.10.2012 lädt die Berliner Mensa-Gruppe ab 17.00 Uhr zu 2 Vorträgen in die SRH Hochschule am Ernst-Reuter-Platz 10 in 10587 Berlin ein. Hierbei werden nicht nur die Vereinsaktivitäten von Mensa in Deutschland e.V. (MinD) vorgestellt, sondern auch Aspekte rund um das Thema IQ aufgegriffen. Gabriela Schnell und Dr. Karin Rasmussen geben einen Einblick in die Besonderheiten des Nachweises von Hochintelligenz/Hochbegabung: Gabriela Schnell: IQ, EQ, soziale oder praktische Intelligenz - was ist das, wie misst man es und was sagt es aus? Karin Rasmussen: Hochbegabung verstehen - Was ist anders im hochbegabten Gehirn? Das komplette Programm findet sich unter |www.mensa.de

Sonntag, 16. September 2012

Unser Selbst – Hochbegabung (all) inclusive!


Liebe Lilli,

danke für Deinen letzten Brief – wie immer sehnsüchtig erwartet, mit Freude gelesen, in Gedanken mehrmals beantwortet und dann doch bis auf den „letzten Moment“ vor mir hergeschoben - weil einfach zu viel passiert.

Also fange ich meine Antwort jetzt einfach mal in der Reihenfolge Deiner Fragen an:

Die Freundin, mit der ich mich an das Forschungsprojekt wagen werde, ist eine hochbegabte reife Frau, Mutter, IT-Spezialistin und gerade (nach mehreren abgeschlossenen anderen Ausbildungen und Studien) mal wieder Fernstudentin im Fach Psychologie. Da wir beide – wie Du ja auch – immer auf mehreren Baustellen gleichzeitig wirken, soll natürlich auch dieses Forschungsprojekt mehrfachen Nutzen bringen. Neben neuen Erkenntnissen aus der Welt der Hochbegabten wollen wir methodische Erfahrungen sammeln in der Anwendung der neuen Kommunikationstechnik für Forschungszwecke (hurra, als IT-Spezialistin kann sie mich um einiges weiter bringen, als ich es selbst geschafft hätte) und natürlich wird sie unsere Ergebnisse auch für ihre Bachelor-Arbeit nutzen. Zurzeit mühen wir uns in unserer knappen Freizeit um das Forschungskonzept  und sammeln Fragestellungen, die von anderen HB-Forschern bisher nicht betrachtet wurden. Das Feld ist groß – und der Ergebnishorizont vorläufig ganz offen.

Eine meiner aktuellen Baustellen ist besagter Workshop „Hochbegabung verstehen – was ist anders im hochbegabten Gehirn?“, der ja am kommenden Montag in Berlin startet. Ich habe inzwischen so viele Anfragen von Interessenten, die diesen Termin nicht nutzen können, dass mir Deine Idee, das Thema in einem Film zu bearbeiten, hervorragend gefällt. Damit könnten wir tatsächlich sehr viel mehr Menschen erreichen und wahrscheinlich auch viel mehr Erkenntnisse bereitstellen, als es die verbreiteten „Wunderkinder“-Reportagen im TV bisher getan haben. Eine wohltuende Ausnahme war da schon die Sendung mit Richard David Precht und Prof. Gerald Hüther (1) am 2. September im ZDF. Zwar ist die Frage „Macht Schule dumm?“ reichlich provokativ – klar, Quotenjagd – aber die Aussage von Prof. Hüther, dass eigentlich jedes Kind hochbegabt ist und Förderung verdient, bietet einen wunderbaren Einstieg in genauere Untersuchungen zu unserem Thema. Denn das, was heute allgemein als Hochbegabung definiert wird, ist ja in Wahrheit eher intellektuelles Hochleistungs- Potenzial. Und die Frage, welche Rolle das Gehirn – im Unterschied zu und im Zusammenwirken mit Umwelt – bei der Umwandlung von Potenzial in Leistung spielt, sollte doch genau so legitim sein, wie die sportmedizinische Forschung es für die Sportförderung ist. Also: Lass uns diesen Film machen, sobald es geht! Auch wenn er wahrscheinlich mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet: Fragen sind der Ursprung des Wissens!

Du fragst Dich (mit Deiner Erfahrung als Fernsehjournalistin) welche Möglichkeiten es geben kann, den inneren Weg zu sich selbst zu finden. Und warum dieser Weg  so wichtig ist? Und Du verweist auf Miller, Damasio und andere, die nachweisen, wie wichtig Gefühle sind.(2) Auch ich glaube, dass es ohne diese Akzeptanz der eigenen Gefühle keinen Weg zum eigenen, inneren Selbst geben kann. Und dabei hilft es oft, wenn man aus Büchern oder Filmen mit der emotionalen Betroffenheit, die diese Medien bewirken können, zu größerer Klarheit kommt.

Erst kürzlich haben mir mehrere Hochbegabte über ihre persönlichen Gefühlskrisen berichtet. Es war beim 24. Berliner Sommerfest von Mensa e.V. (übrigens wieder ein inspirierendes Highlight voller kultureller und intellektueller Anregungen). In verschiedensten Gesprächen kam wiederholt die Frage auf, wie die Nachricht von einer erwiesenen Hochbegabung verarbeitet wurde. Und fast wörtlich übereinstimmend erzählten meine Gesprächspartner über einen verwirrenden Prozess:

Zuerst wollten sie es nicht glauben, hielten das Ergebnis für einen Irrtum oder Fehler.Dann fingen sie an, sich mit dem Thema anhand von Büchern und Blogs zu befassen und erkannten sich selbst in vielen Schilderungen betroffen wieder. Vor allem die Beschreibungen anderer Hochbegabter über die Probleme mit verständnislosen Eltern, Lehrern, Altersgenossen und die erlebte Einsamkeit, den tiefgreifenden Selbstzweifel (mit mir stimmt was nicht) als auch die fortwährende Langeweile bei „altersgerechten“ Anforderungen schienen ein sicheres Symptom dafür zu sein, dass das Testergebnis doch stimmen könnte. Denn: Genau diese Probleme hatten sie selber auch!

Und dann kam die Wut: Nahezu jeder Mensch aus dem näheren Umfeld hätte doch etwas tun müssen, um dieses Potenzial zu fördern, statt immer nur auf Normalität, Zurückhaltung, Bescheidenheit, ja Durchschnittlichkeit zu bestehen! Man war im Stich gelassen worden! Man hatte schon als Kind keine Chance bekommen, man selbst zu sein. So viel Zeit und so viel Mut waren verloren gegangen.

In einigen Gesprächen konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sogar Hass gegen Eltern oder Lehrer eine Rolle spielte, jedenfalls war es mehr als nur einfache Wut. Der Vorwurf der Unterdrückung war unüberhörbar.

Auf meine vorsichtige Gegenfrage, welche Förderung man sich denn damals gewünscht hätte, herrschte dann doch erst mal betretenes Schweigen. Denn das war (und ist) vielfach unklar. Was wäre denn sinnvoll? Und ist die Erziehung in den Grundfragen menschlichen Zusammenlebens – ich nenne das mal „soziale Basis-Kompetenzen“ – wie z. B. Anstrengung, Ausdauer, Gründlichkeit, Fleiß usw. wirklich schädlich für die Hochbegabung? Wohl eher nicht! Sonst gäbe es ja nicht so viele erfolgreiche Hochbegabte, die von ihrer Hochbegabung gar nichts wissen. In Deutschland könnten etwa 1,6 Mio. Menschen hochbegabt sein, aber wie wenige wissen das von sich? (3)

Zu welcher Förderung wären also die Eltern, Lehrer usw. „verpflichtet“ gewesen, wenn die Hochbegabung doch gar nicht erkannt wurde? Gerald Hüther spricht mir aus dem Herzen, wenn er Förderung für jedes Kind verlangt, und das nicht nur in der Schule. Noch mehr: Wir brauchen ein Ende der Beschränkung! Für die meisten Hochbegabten, ob erkannt oder unerkannt, wäre schon der Wegfall vielfältiger Verbote oder Hindernisse ein großer Schritt zum eigenen Selbst.

Davon konnte ich mich bei der Einschulung meines älteren Enkels wieder mal überzeugen. Die Schulleiterin hatte in ihrer feierlichen Begrüßungsrede symbolisch eine „Zuckertüte“ gepackt mit allerhand nützlichen Dingen. Und unter anderem gab es auch ein paar Süßigkeiten für die Erstklässler, wie sie sagte:“… für die bitteren Momente, wenn mal etwas nicht gleich gelingt oder eine Note nicht so gut ausfällt“. Um dann gleich mit deutlich erhobenem Zeigefinger in der Stimme zu ergänzen: „Aber nicht im Unterricht naschen!“ Ich fragte mich sofort: Wen stört ein Bonbon? Wäre es nicht geradezu sinnvoll, die Situation zu nutzen und etwas über Traurigkeit, Enttäuschung, Trost, Durchhaltevermögen, gegenseitige Hilfe, Lebensmittelhygiene, gesunde Ernährung und/oder die umweltschonende Entsorgung von Bonbonpapier und vieles mehr  zu lehren?

Bei meinen Gesprächen mit den frustrierten Hochbegabten, die erst seit kurzem über ihre Hochbegabung wussten, spielten genau diese ungenutzten Chancen schließlich die größte Rolle: Sie hatten schon als Kind das Vertrauen und die Hoffnung in die Hilfe durch die Erwachsenen verloren – wie hätten sie etwas Sinnvolles von jemand lernen können, der so sinnlose Maximen aufstellte und mit aller Autorität verfocht? Die Liste der Bespiele war kunterbunt und ziemlich lang. Von schlechten Noten für ein richtiges Ergebnis in der Mathearbeit „weil wir den Rechenweg noch nicht behandelt haben“ über Betrugsunterstellungen „weil dieses Englisch nicht dem Niveau der anderen Schüler entspricht“ bis zum Verweigern der Gymnasialempfehlung „weil zu viele außerschulische Aktivitäten die Konzentration beeinträchtigen“ reichte die Palette (und ist bestimmt nicht vollständig).

Du kannst Dir vorstellen, dass ich große Mühe hatte, mich von der Frustration nicht anstecken zu lassen. Denn ich weiß ja, dass es auch viele richtig gute Lehrer gibt, viele engagierte Eltern und viele Förderprogramme und Initiativen, auch für die Begabtenförderung. Dass das alles nicht jeden erreicht ist eher eine Herausforderung, als ein Vorwurf. Und dass man für besondere Unterstützung auch eigene Anstrengungen unternehmen sollte, versteht sich von selbst. Über das Internet können heute die meisten Schulen direkt Informationen zur Begabungsförderung abrufen, sie können Eltern und Schüler dazu beraten und sogar guten Beispielen durch eigene Projekte folgen – aber man muss ihnen eben auch die richtigen Fragen stellen und Interesse am Thema zeigen. Einfach nur selbst zu beschließen, dass Hochbegabung kein Thema ist, führt in die falsche Richtung.

Ich habe schließlich versucht, mit meinen Gesprächspartnern eine ganz andere Frage zu klären. Nachdem ich verstanden hatte, dass die Bestätigung ihrer Hochbegabung sie auch zum Nachdenken über ihr Selbst veranlasst hatte, wollte ich wissen: „Was hätte aus Dir werden sollen, wenn Du eher von Deiner Hochbegabung gewusst hättest? Was glaubst Du, was Dir entgangen ist?“ Die Antworten waren sehr aufschlussreich! Meist begannen sie tatsächlich mit „ich hätte...“ – also mit der Vorstellung, selbst aktiv zu sein, etwas zu unternehmen, anzustreben. Das waren meist bislang unerfüllte Wünsche, sich mit einem bestimmten Wissensgebiet intensiv zu befassen, Kurse zu besuchen, Bildungschancen zu nutzen – die zu höherer Qualifikation und damit besseren Berufschancen oder zu einem früheren Abschluss geführt hätten. Klar, das hat mich nicht überrascht. Aber es ging dann immer noch weiter, und das war für mich in dieser Dichte doch eine neue Perspektive: „Ich hätte weniger Unsinn gemacht!“

???

Die selbstkritische Rückschau auf trotzige Aktionen, Verweigerungen, aber auch auf Rückzugsverhalten und Verheimlichung der eigenen Fähigkeiten! Denn jetzt begannen meine Gesprächspartner langsam zu begreifen, dass ihre Hochbegabung in erster Linie von ihnen selbst genutzt werden muss, ehe sie von anderen erkannt und wertgeschätzt werden kann. Und dieses neue Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit  für das innere Selbst, die damit verbundene optimistische Klarheit  ist für die meisten der erste Schritt einer neuen Suche: Wie kann ich Versäumtes möglichst schnell nachholen, Lücken schließen, gekappte Verbindungen wieder herstellen, neue Partner gewinnen? Und welche Aufgabe ist die passende? Wo werde ich gebraucht, wie kann ich mit meinen Fähigkeiten auch für andere nützlich sein? Dass mancher auch bei uns Unterstützung sucht, um sich diese Fragen zu beantworten, kann nur gut sein. Wir helfen ja gerne beim Sortieren, Orientieren, Koordinieren. Aber wir lassen jedem sein Selbst! Und damit die Chance, zu allererst sich selbst zu fördern – im wahrsten Sinne des Wortes – seine Schätze zu heben!

Du schreibst: Heute gibt es immer mehr Menschen, die verstehen!
Ja! Zum Glück werden es täglich mehr. Und schon bald wird Hochbegabung kein exotisches Thema mehr sein, sondern so beliebt und gleichzeitig alltäglich wie Kultur und Sport – in allen Varianten. Ich freu mich drauf.

Liebe Lilli, herzlichen Dank auch für Deinen Tipp zu Paturis schulkritischem Buch! (4) Es hat ja bereits im Vorfeld einiges ausgelöst – ich werde es lesen, sobald es zu haben ist.

Dir alles Gute, vor allem weiter viel Optimismus

Herzlichst
Deine Karin


2 Miller, Alice: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst.
Eine Um- und Fortschreibung. Frankfurt am Main 1991
4 Felix R. Paturi „Denken unerwünscht. Wie deutsche Schulen hochbegabte Kinder traumatisieren“ http://hochbegabungspresse.blogspot.de/2012/08/hochbegabten-buchtipp-denken.html   

Sonntag, 2. September 2012

Wie ein begabter Mensch seine Freiheit findet


Liebe Karin,

Du machst mir eine grosse Freude: Dass Du noch in diesem Jahr ein Forschungskonzept entwickeln wirst, begeistert mich. Karin, Du hättest es sehen sollen: Ich bin gleich durchs Büro getanzt. 

Wer ist die forschende Unbekannte, die sich mit Dir an die Arbeit machen will? Wenn Du magst, berichte mir bitte bald mehr davon. Ich bin aufgeregt vor Freude!

Von Deinem spannenden Workshop „Hochbegabung verstehen - Was ist anders im HB-Gehirn?“ (1) lese ich mit einem mich freuenden und mit einem traurigen Auge. Ich freue mich über die coole Idee. Ich freue mich über die spannenden Fragestellungen wie etwa „Was sind IQ-Bausteine und sind diese gleichzeitig HB-Bausteine?“, „Welche Intelligenzbereiche werden mit dem IQ abgebildet und was sagt das über Begabungen?“ und „Welchen Potenzialvorsprung kann man durch HB haben und wie kann man diesen Vorsprung nutzen?“. Mit Dir. Am 17.09.2012 oder 18.09.2012 in Berlin. Dich und andere Hochbegabte näher kennen lernen. Wer wäre nicht gerne dabei? Glückwunsch denen, die das erleben dürfen. Eine brilliante Idee! (Wir feiern am 17./18. in der Familie einen runden Geburtstag – aber ich werde in Gedanken immer mal in Berlin sein.)

Mein trauriges Auge: Was ist mit den hochbegabten Menschen, die nicht in Berlin sein können? Deren Terminkalender einfach mit dem Kopf schüttelt und NO sagt? Zuerst dachte ich: Wir können gemeinsam ein Buch zu diesem Thema schreiben. Mich fasziniert unser Gehirn seit meiner Kindheit. Seit mein Grossvater nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen konnte. Später an der Uni, bei Praktika in Krankenhäusern und während meiner Trainerausbildung. Aktuell arbeite ich an dem Thema „Interaktion mit einem komatösen Hochbegabten“.

Bald kam mir aber ein anderer Gedanke: Ein Film kann dieses Thema – auch für Angehörige der Hochbegabten – besser transportieren. Und so habe ich ein neues Angebot an Dich – wenn ich meine aktuellen Hausaufgaben gemacht habe – wollen wir gemeinsam einen Film über „Hochbegabung verstehen“ machen? Die Erfahrungen aus Deinem Workshop können dann ein Herzstück dieses Films sein.

Wie gefällt Dir die Idee?

Ich kann mir vorstellen, dass wir dadurch auch Deiner Anregung vor dem Hintergrund Stefan Zweigs  „Wer einmal zu sich selbst gefunden hat, der kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren.“ näher kommen: „Ich glaube nämlich: das genau ist es, wonach so viele Hochbegabte – und nicht nur sie – suchen. Wer bin ich, was kann ich, was bedeute ich in der Welt in der ich lebe und was wird von mir bleiben?“

Wie aber können wir zu uns selbst finden?  Wir lernen alles Mögliche in den Schulen, in Akademien und Universitäten – aber wo lernen wir: zu uns selbst zu finden?

Marc Aurels Anregung ist gut und schön: „Blicke in dein Inneres. Da ist die Quelle des Guten, die niemals aufhört zu sprudeln, wenn du nicht aufhörst zu graben.“ Aber mal ganz konkret: Wie geht das, in mein Inneres zu blicken? Gibt es dafür ein Rezept? Wie bei einem Kochkurs? Und: Kann ich das alleine? Oder brauche ich Hilfe? Welche? Von wem? Von Ärzten? Psychologen? Philosophen? Pädagogen? Theologen?

Ich erinnere mich noch genau an einen zauberhaften Sommer vor acht Jahren in Niedersachsen. In der Nähe der Nordsee gab es ein kleines Paradies mit Trainingsräumen. Wir hatten gerade mein „Frauen-Coaching-Seminar“ beendet und standen noch eine Weile zusammen. Eine der Frauen sagte nach einer langen Pause: ein solches Seminar sollte im Fernsehen gezeigt werden. Damit mehr Frauen Mut finden, sich selbst zu entwickeln.

Wenig später flatterte der Brief einer der grössten Fernsehproduktionen auf meinen Schreibtisch. Es war die Casting-Anfrage  für ein tägliches Coaching im Fernsehen, das ich dann übernehmen sollte. Der Gedanke gefiel mir auf Anhieb. Allein die Umsetzung wollte  mir nicht einleuchten. Als gelernte Fernsehjournalistin konnte und kann ich mir nicht vorstellen, wie eine seriöse Umsetzung für ein tägliches Millionenpublikum möglich sein kann. Jedoch denke ich immer mal wieder darüber nach.

Ich frage mich: Welche Möglichkeiten kann es geben, den inneren Weg zu sich zu finden. Und warum ist dieser Weg  so wichtig?

Wer sich auf die Suche nach sich selbst begibt, wird früher oder später „Das Drama des begabten Kindes“ (2) der Psychoanalytikerin Alice Miller in den Händen halten. Sie empfiehlt „die Wahrheit unserer einmaligen und einzigartigen Kindheitsgeschichte emotional zu finden.“ Erst die Wahrheit befreit. Wir können unsere Vergangenheit nicht ändern. Aber unsere Einstellungen zu dieser Vergangenheit. Wir können aufhören, vor dem empfundenen Schmerz und dem Leid zu fliehen. Wir können das Land der Illusionen verlassen. Die Illusionen, die uns scheinbar in Sicherheit wiegen. Und wir können lernen, unserer Wahrheit ins Auge zu blicken.

Wie könnte unsere Wahrheit aussehen? Alice Miller schreibt dazu: „Die frühe Anpassung des Säuglings führt dazu, dass die Bedürfnisse des Kindes nach Liebe, Achtung, Echo, Verständnis, Teilnahme, Spiegelung verdrängt werden müssen. Gleiches gilt für die Gefühlsreaktionen auf die schwerwiegenden Versagungen, was dazu führt, dass bestimmte eigene Gefühle (wie z. B. Eifersucht, Neid, Zorn, Verlassenheit, Ohnmacht, Angst) in der Kindheit und dann im Erwachsenenalter nicht erlebt werden können. Dies ist umso tragischer, als es sich hier um Menschen handelt, die an sich zu differenzierten Gefühlen fähig sind.“ (3)

Wer sich seiner Wahrheit stellt, wird belohnt. Miller: „Es gehört zu den Wendepunkten der Therapie, wenn Menschen zu der emotionalen Einsicht kommen, dass all die ‚Liebe‘, die sie sich mit so viel Anstrengungen und Selbstaufgabe erobert haben, gar nicht dem galt, der sie in Wirklichkeit waren; dass die Bewunderung für ihre Schönheit und Leistungen der Schönheit und den Leistungen galt und nicht eigentlich dem Kind, wie es war. Hinter der Leistung erwacht in der Therapie das kleine einsame Kind und fragt sich: ‚Wie wäre es, wenn ich böse, hässlich, zornig, eifersüchtig, verwirrt vor euch gestanden wäre? Wo wäre denn dann eure Liebe gewesen? (…) Von Anfang an war ich ein kleiner Erwachsener. Meine Fähigkeiten – wurden sie einfach missbraucht?‘“ (4)

Ich nehme jetzt meine Gefühle ernst – ist ein Schritt aus dem inneren Gefängnis. Wir erinnern uns daran, dass Generationen von kleinen Jungs – und manchmal auch Mädchen – mit dem scheinbar heroischen Satz gross geworden sind: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ In Wahrheit ist das Gegenteil der Fall: Auch Indianer kennen Schmerzen, weiss Dr. James Blunk (5) zu berichten. Er ist Anästhesist mit Fachgebiet Schmerztherapie und er hält Vorlesungen an der Heidelberger Kinder-Uni in Medizin. Er klärt die Kinder auf und sagt, wie wichtig das Schmerzempfinden ist: „Alle Menschen empfinden Schmerzen. Schmerzen zu haben ist ausserdem nicht peinlich oder gar schädlich, sondern im Gegenteil überlebenswichtig.“

Wissenschaftler informieren zunehmend wie wichtig Gefühle sind. Zum Beispiel der Neurowissenschaftler António Damásio in seinem Buch „Descartes' Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn“. (6) Er zeigt auf, dass Menschen, die das Zentrum für Emotionen im Gehirn verloren haben (durch Unfall/Krankheit), die Fähigkeit verlieren, ihr Leben zu organisieren und Entscheidungen zu treffen. (7)

Wenn die Menschen lernen, wie wichtig ihre Gefühle sind, kann eine Erleichterung einsetzen. Als Kind konnte die Verleugnung der Gefühle von ihm als lebenswichtig gedeutet werden. Heute darf das Kind von damals erkennen und erleichtert wahrnehmen was ehemals vielleicht abgewürgt werden musste. Und wie wichtig es ist, diese Gefühle ernst zu nehmen. Und in diesem Rahmen eigene Rechte erkennen: Schweigen und Einschüchterung – das war gestern!

Verhängnisvoll, wenn der Weg aus dem Gestern zum Heute nicht gegangen werden kann. Wenn Selbstgefühl fehlt und die "unangezweifelte(n) Sicherheit, dass empfundene Gefühle und Wünsche zum eigenen Selbst gehören". (8)

Ich sah einmal in einem Fernsehinterview eine europäische Prinzessin den folgenden Satz sagen: „Es ist schwer seinen Weg zu finden, wenn einen niemand versteht.“

Das war gestern.
Heute gibt es immer mehr Menschen, die verstehen!

Liebe Karin: danke, dass es Dich gibt! Danke für Deine Begleitung. Deine Umsichten und Einsichten. Sonnenschein für Dich!

Herzlichst
Deine Lilli

PS Ich möchte noch auf das neue Buch von Felix R. Paturi aufmerksam machen, das ab dem 19. September im Handel  sein wird: „Denken unerwünscht. Wie deutsche Schulen hochbegabte Kinder traumatisieren“ Es ist eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Schulsystem. http://hochbegabungspresse.blogspot.de/2012/08/hochbegabten-buchtipp-denken.html


1 Hochbegabung verstehen - Was ist anders im HB-Gehirn? http://www.coaching-fuer-hochbegabte.com/SeminarHochbegabung
2 Miller, Alice: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst.
Eine Um- und Fortschreibung. Frankfurt am Main 1991 http://www.alice-miller.com/bucher_de.php?page=8
3 a.a.O. Seite 22
4 a.a.O. Seite 29
7 Vgl. Miller, S. 166
8 Miller, Alice: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. 1. Auflage 1979, Seite 60