Liebe
Karin,
grossartig!
Ganz Grossartig! Wie Du Dich begeistern kannst. Ich spüre die Forschungsfreude
durch Deine Zeilen hindurch. Das wirkt auf mich sehr ansteckend.
Obwohl ich
dazu einen kleinen Wertmutstropfen beitragen muss: Ich habe die Verantwortung
für laufende Projekte – und vor allem für die Menschen, die in diese Projekte
eingebunden sind. Bevor ich in die Forschung einsteigen kann, gilt es, unsere aktuellen
Arbeiten zu einem guten Ende zu führen.
Aber
wir können gemeinsam weiter denken und planen. So bin ich dankbar, dass Du den
Appell an unsere Leserinnen und Leser gegeben hast: Wenn Sie Lust und Zeit
haben an diesem Projekt mitzuarbeiten, so schreiben Sie uns per Mail. Danke,
dass nun alle diese Mails bei Dir auflaufen dürfen.
Du
hast so eine praktische Ader – das liebe ich an Dir: „Lass uns doch gleich
diese Frage an unsere LeserInnen stellen: Wer können die möglichen Partner und
Geldgeber sein?“
Und
Du hast so etwas Selbstverständliches: „Tatsächlich werden so auch Träume in
manchmal zähem Ringen mit dem Gewohnten, Althergebrachten verwirklicht. Sie
werden zu Zielen von sozialen, kulturellen, politischen Bewegungen. Und diese
Ziele motivieren und verbinden. Nicht nur im Großen, oft auch in kleinen
Alltäglichkeiten.“
Das
Alltägliche. Genau. Dazu möchte ich Dir eine Geschichte von einem hochbegabten
Mann erzählen. Nennen wir ihn „Herrn Müller“.
Es dauerte vier oder fünf Telefongespräche bis ich erfahren konnte,
was Herr Müller mir sagen wollte. Solche
Art von Gesprächen kommen mit schöner Regelmässigkeit. Und ich denke: Du wie
auch unsere Kolleginnen und Kollegen erleben ähnliches.
Es
beginnt mit: „Sie machen doch sowas mit Hochbegabung.“ Und dann gibt es
schüchtern verpackte Informationen. Und schliesslich – wenn Vertrauen gefasst
wurde – gibt es die Lebensgeschichte. Nun darf „man“ als Hochbegabter auch
erzählen, was „man“ alles weiss, kann und schon gemacht hat. Es sind übrigens
bis jetzt immer die Männer, die so etwas verhalten um nicht zu sagen sybillinisch
– geheimnisvoll-rätselhaft – daherkommen.
Herr
Müller erzählte mir von seinen Erfindungen. Und wie diese Erfindungen
Arbeitsplätze geschafft und besseres Leben ermöglicht haben. Und nun brauche er
selbst Hilfe, um sein Leben selbst in den Griff zu bekommen. Trotz ärztlicher
Betreuung käme er nicht so richtig von der Stelle.
Er
wirkte etwas chaotisch. Diffus. Hilflos. Fragen wollte er nicht wirklich
beantworten. Was wollte er?
Es
schien, dass er einen Menschen suchte, der ihm aufmerksam zuhörte. Zunächst.
Aber irgendwann konnte er es auf den Punkt bringen: Förderung. Er wollte
gefördert werden. Als hochbegabter Mensch - doch irgendwie wie ein Kind, das an
die Hand genommen werden will. Mir fiel unweigerlich der Spruch ein: „Eine 1+
in Mathe – aber die Schuhe nicht alleine zubinden können.“
Selbstredend
sollte diese Förderung vom Staat organisiert und bezahlt werden.
Ein
paar Tage später sass ich im Zug. Wieder einmal musste die Fahrt unterbrochen
werden, weil ein Mensch sich auf dieser Strecke das Leben genommen hatte. Warum
kann so vielen Menschen nicht geholfen werden?
Ich
weiss nicht warum, aber ich musste an Herrn Müller denken. Er schien so
unfassbar nach einer „Dea ex macchina“
zu suchen. Wie die Iphigenie von Euripides? Die in der gleichnamigen Tragödie von einer Gottesgestalt
in die Freiheit geführt wurde. Ein Happy End wie im Märchen?
Ich
fragte mich, ob es nicht irgendwo einen Menschen geben würde, der ihm helfen
könnte.
Im
Laufe meines Lebens habe ich immer wieder Menschen getroffen, die gerne anderen
Menschen helfen. Im Krankenhaus, in einem Hospiz. Oder in
Bildungseinrichtungen.
Wieder
andere Menschen würden es gerne tun. Aber ihnen fehlt das Selbstbewusstsein.
Der Mut. Die Courage. Sie sagen: Wer bin ich schon? Ich – ich bin doch nur eine
einfache Hausfrau. Was kann ich denn schon tun?
Dazu
möchte ich Dir eine Geschichte erzählen, die ich Ende der 80er Jahre erlebt habe.
Eines Tages klopfte ein Marketingleiter an unsere Tür. Er hatte irgendetwas von
mir gelesen und meinte, ich könne ihm helfen. Sein Chef – ein bekannter
Fabrikant in seiner Stadt – wollte sich einen Lebenstraum erfüllen. Er wollte
ein Haus für die Öffentlichkeit bauen. Es sollte ein ganz besonderes Haus sein.
Originell. Einladend. Ein offenes Haus für viele Menschen.
Irgendwie
kam der Plan ins Stocken. Und von uns wurde nun erwartet, dass wir eine Lösung liefern. Ich hatte damals eine
neue Methode in der Marktforschung entwickelte und so bot ich ihm an, seine Fragen
in unsere Testreihe einzuarbeiten. Mit dem Einverständnis der Probandinnen (Hausfrauen)
filmten wir, damit die Diskussionsentwicklung gut nachvollziehbar wurde.
Wir
waren mitten drin als ich fragte: „Und wie sollte ein solches Haus aussehen?“
Pause. Dann – wie aus der Pistole geschossen eine der anwesenden Hausfrauen:
XYZ (Beschreibung des Hauses)! Ich habe heute noch Gänsehaut, wenn ich an diese
Antwort denke. Genial! Und sie schob noch hinzu: Und es sollte genau da und da
stehen! Applaus von der ganzen Gruppe. Der Filmmensch hatte Tränen in den
Augen.
Bauaufsicht?
Ordnungsamt? Denkmalschutz? Kein Gedanke daran. Ob eine solche Form des Hauses
erlaubt sein würde? Keine Frage. Ob dieses Grundstück frei war? Bezahlbar?
Unbeirrt blieb die Hausfrau bei ihrer Idee.
Man
hatte uns ein Problem präsentiert. Und eine Hausfrau hatte uns die Lösung
geschenkt. Eine „ganz einfache Hausfrau“ wie sie sich selbst nannte. Keine
Architektin im Mutterschutz. Keine Denkmalschützerin. Keine Kunststudentin.
Du
kannst es Dir schon denken: Das Haus wurde gebaut. Genauso wie die Hausfrau es
beschrieben hatte. Es steht genau an dem Platz, den sie ausgesucht hatte. Und
es gibt in dieser Stadt kaum ein Kind, das dieses Haus nicht kennt. Alle lieben
es.
Und
Du wirst auch schon wissen, warum ich Dir die Geschichte erzählt habe:
Geschätzte 99% der Hochbegabten wissen nicht, dass sie hochbegabt sind. Aber
hin und wieder bricht es dann doch durch. Ganz selbstverständlich. Bei
Hausfrauen, Postbeamten, Verkäuferinnen, Altenpflegern, Polizistinnen, Rentnern,
Hebammen, Lehrern, Fluglotsinnen, Bankern, Friseurinnen, Fotografen,
Tierärztinnen …
Das
erinnert mich an den „Panther“ von Rilke:
„Sein Blick ist vom
Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der
weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur
manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.“
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.“
Manchmal
zeigen sich die Hochbegabten. Mag sein, dass ein Stimulus sie weckt. Oder ihre
innere Stimme sie ruft. Dann stehen sie auf. Fast überrascht von sich selbst.
Und überrascht, dass andere Menschen das nicht genau so sehen können. Und in
dem nahenden Bewusstsein, eine Sternminute ausgelöst zu haben, verschliessen
sie sich wieder.
Ach
könnte man sie doch locken, sich ganz und gar zu zeigen.
Und
nun schliesst sich der Kreis zu Herrn Müller. Und zu all den anderen, die sich
immer wieder an Menschen wenden, die „etwas mit Hochbegabung zu tun haben“.
Es
gibt nicht nur die Menschen, die Hilfe suchen. Es gibt auch die, die gerne
helfen würden. Die es können. Die sich gerne die Zeit nehmen würden. Denen aber
hier und da der Mut fehlt auf eben diese Menschen zuzugehen. Oder die nicht
wissen, dass es solche Hilfesuchenden gibt.
Ich
möchte hiermit anregen, dass sich die Organisationstalente angesprochen fühlen.
Die Frauen und Männer, die wissen wie ein solcher Kreis aufgebaut und geführt
werden kann. Die im Sinne Kennedys nicht fragen, was ihr Land für sie tun kann
– sondern, die sich fragen, was sie für ihr Land (ihre Mitbürger/innen) tun
können. Die Menschen, die eine Leidenschaft spüren und anderen bei der Geburt
ihrer Talente zur Seite zu stehen wollen. Bis sie alleine auf den eigenen
Talentfüssen stehen können. Ich möchte diesen Menschen sagen: Liebe Menschen!
Bitte melden. Hochbegabte warten schon auf Sie!
Ich
wünsche mir, die Menschen können gerade diesen Appell von Goethe hören: „Habt
doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen
zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und
entflammen zu lassen.“
Liebe
Karin, und damit bin ich auch schon beim „Siegen“. Denn mein Siegen hat etwas
mit dem „Siegen über sich selbst“ zu tun. Ich könnte auch sagen: Über den
eigenen Schatten springen. Wie oft haben wir uns etwas vorgenommen. Wie oft
wollten wir uns etwas angewöhnen, abgewöhnen oder einfach „es tun“.
Und
wie zufrieden sind wir, wenn wir es endlich erreicht haben. Das kann ganz
alltägliche Lebensumstände betreffen: Den Keller aufräumen, wieder mit dem Sport
anfangen oder endlich den einen wichtigen Brief schreiben. Sich selbst
besiegen. „Es“ endlich geschafft zu haben. Ist das nicht ein Sieg, den wir uns alle
wünschen? Pedro Calderón de la Barca sagte einmal: „Der größte Sieg: sich
selbst besiegen.“
Aber
auch im Sport und Spiel darf es für mich um Siege gehen. Oder auch um Siege im
Sinne Platons: „Kultur ist der Sieg der Überzeugung über die Gewalt.“
Ach,
Karin. Ich denke, darüber werden wir wohl noch mal diskutieren.
Herzlichst
Deine
Lilli