Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Sonntag, 1. April 2012

Wie ein aussichtsloser Mensch den Erfolg fand

Liebe Karin,

Du hast es sicher schon gelesen: Emma Einstein aus Buchau (Baden Württemberg), eine entfernte Verwandte des bekannten Physikers, plant die Gründung einer politischen Partei für Hochbegabung. Der Name „Ü 130“ ist Programm. Hauptziel  der Partei ist die kostenfreie Förderung von Hochbegabten. Die dadurch gewonnene Lebensqualität der Menschen wird die Steigerung von Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit und Selbstwertgefühls zur Folge haben.

Vor diesem Hintergrund verspricht sich Einstein ein Anwachsen der Leistungsstärke unserer Volkswirtschaft, Entspannung auf dem Arbeitsmarkt, Harmonisierung im Berufs- und Alltagsleben (Rückgang von Mobbing, Bossing, Burnout und damit Rückgang der Krankenfehltage) Schuldenreduktion, Abnahme der Kriminalität sowie Integration benachteiligter Gruppen.

Im Fall einer Regierungsbeteiligung fordert Einstein das Bundesministerium für Hochbegabung für ihre Partei.

Zu schön, um wahr zu sein?

Richtig! April! April! Ich habe Deine Anregung – „Privileg zum Scherzen“ – dankbar zum Anlass genommen, einen Gedanken in die Welt zu setzen, der zwar heute noch wie Zukunftsmusik klingen mag, dem aber auch schon ein Hauch Wirklichkeit innewohnt. Schon lange denke ich mit anderen Hochbegabten darüber nach, wie die Förderung für Menschen mit einem IQ über 130 realisiert werden kann.

Die meisten Menschen werden darüber lachen?
Das bin ich gewohnt.

Meine erste Erfahrung mit aussergewöhnlichen Gedanken hatte ich,  noch „ganz klein“,  Mitte der 70er Jahre. Ich durfte  geistig mitarbeiten bei einer der ersten Umweltorganisationen in Deutschland. Freunde von uns und deren Freunde gründeten die „Aktionsgemeinschaft Bessere Umwelt“ (ABU). Vorsitzende war Brunhilde Hoch, damals Mitglied des nordrhein-westfälischen Landesparlamentes. In Pesch, einem kleinen Dorf in der Nähe von Köln, wurde als Erstes ein Event ausgerichtet, der bis in den Süden von Afrika übertragen wurde.

Gewässer untersuchen, Plätze  und Strassen reinigen – das waren unsere ersten Aktionen. Darüber wurde dann auf dem Event berichtet. Und damit es für die Besucher nicht zu trocken wurde, gab es ein buntes Rahmenprogramm. Mit etwas Glück war es gelungen, den Chef-Moderator von Radio Luxemburg zu gewinnen. Und damit kam auch eine feine Auswahl der A-Promis zu uns: Sänger, Journalisten und Models.

Irgendwie fand man uns so schrill, dass sogar in Südafrika über uns berichtet wurde. Dies war eine Zeit – die über 30jährigen werden sich erinnern  - in der Facebook und Twitter noch nicht geboren waren. Wir setzten aufs Radio. Und erhielten Post aus der ganzen Welt. „Umwelt?“ „Wir haben doch keine Umweltprobleme? Wegen so ein paar Kaugummi-Papierchen, die auf der Strasse liegen, machen die so ein Theater?“ Ich muss nicht betonen, dass es uns nicht um die Papierchen ging, die auf der Strasse lagen. Aber das weiss ja heute jedes Kind.

Und ja: Natürlich wurde wir ausgelacht. „Haben sich da ein paar Spassvögel vom Rhein einen Scherz erlaubt? Oder soll da wirklich etwas dran sein?“ Das war Mitte der 70er Jahre. Zur Erinnerung: DIE GRÜNEN zogen 1983 in den Deutschen Bundestag ein. In der Bundesrepublik wurden seit 1977 grüne und bunte Listen gegründet.

Wir dürfen Geduld haben.
Damals waren es die Umweltschützer, die belacht wurden.
Heute sind es die Hochbegabten
Wer lacht heute noch über Umweltschützer?

Und jetzt endlich mal: Ganz herzlichen Dank für Deine Mail. Sie ist wieder einmal so prall gefüllt mit den schönsten Ideen, dass ich Deinem Gedanken über Bücher immer mehr Freude abgewinnen kann. Ideen dazu sind stets herzlich willkommen. Wie findest Du Hörbücher?

„Was ist der beste Weg, um sich selbst gerecht zu werden und zu bleiben?“, klingt mir immer noch im Ohr, im Herz und im Bauch. Ich denke, zu Beginn brauchen wir die Hilfe der anderen. Der Familien, Kindergärtner, Lehrer. Später dürfen dann noch andere hinzu kommen. Aber was ist, wenn selbst Eltern und Lehrer kein  Bewusstsein für Hochbegabung haben?

Kürzlich unterhielt ich mich im Zug mit einer Schulleiterin. Du wirst Dich nicht wundern, wenn ich sage: Irgendwie kamen wir auch auf das Thema Hochbegabung zu sprechen. „An unserer Schule gibt es keine Hochbegabung“, tönte die Rektorin sogleich. „Deswegen können wir auch keine Probleme damit haben.“ Dann sprachen wir über Statistik. Und darüber, dass es an ihrer Schule wohl so 20 Schülerinnen geben müsste, die hochbegabt sein könnten. Stille.

Mag sein, dass ich etwas naiv bin. Aber ich konnte mir nicht so richtig vorstellen, dass das Bewusstsein für Hochbegabung heutzutage noch nicht in allen Lehrerzimmern angekommen war. Schock!

Dass Hochbegabung vor 20 und mehr Jahren weitgehend unbekannt war, habe ich selbst bitter erfahren müssen.

Es begann mit dem wilden Klingeln und Klopfen meiner Nachbarin, das nichts Gutes heissen konnte. Mit keuschender Stimme, aufgebracht und wütend, brach es aus ihr heraus. Zusammenhanglos – wie mir schien. Und immer dazwischen die Worte „sie haben doch so was studiert, sie müssen ihr helfen“. Langsam klärte sich ihr Wirrwarr: Im Krankenhaus, in dem sie das Reinigungspersonal betreut, wurde soeben in der buchstäblich letzten Sekunde eine Schwesternschülerin gerettet. Suizidversuch. Die zukünftige Krankenschwester Maria – aus Datenschutzgründen geben wir ihr mal einen anderen Namen – lebte trotz ihrer Volljährigkeit wieder in ihrem ‚Heim für schwer erziehbare Mädchen‘. In ihrer Umgebung lernte sie das volle Programm der Benachteiligung. Prostitution, Rauschgift, Kriminalität. Maria hatte mit alledem nichts zu tun. Maria wollte Ärztin werden. Warum Ärztin? Das ist sinnvoll.

Erst Krankenschwester und dann Ärztin hatte sie sich gedacht. Als zukünftige Krankenschwester war sie gescheitert. Das Krankenhaus wollte sie nicht mehr. Nun zurück im Heim wollte man sie „in eine Wurstfabrik stecken“. Keine Chance mehr, Ärztin zu werden. Und deshalb wollte Maria sich bei nächster Gelegenheit vor einen Zug werfen.

Es sei denn, jemand würde ihr helfen. Was helfen? Wie helfen? Wobei helfen? Ärztin zu werden? Numerus clausus?

Als ich Maria das erste Mal traf, musste ich an Kaspar Hauser denken. Sie war gerade 18 Jahre alt geworden, wirkte aber geistig etwas zurückgeblieben. In der  Lebenswirklichkeit von Maria lebten wir in einem Königreich, das von König Adenauer  regiert wurde. Tatsächlich war ‚König Helmut‘ als Bundeskanzler an der Macht und Konrad Adenauer schon lange tot.  Marias Allgemeinbildung konnte man mit ruhigem Gewissen in der Nähe von Eliza Doolittle (My Fair Lady) ansiedeln. Hatte sie überhaupt je eine Schule besucht? Maria lebte in ihrer eigenen Traumwelt. Und da nicht einmal sie selbst sich darin auskannte, wollte sie entweder sterben oder eben etwas Sinnvolles finden. Ihre Strebsamkeit war auffallend.

Zu jener Zeit war ich Studentin und kaum in der Lage mein eigenes Leben zu managen – wie konnte ich diesem kranken Mädchen helfen, das sobald der Briefträger an der Tür klingelte mit einem Indianergeheul im Garten verschwand und sich unter Büschen und Bäumen versteckte?

Ich holte mir Rat bei meinem Professor. Er war Arzt und Psychologe. Und konnte mir sicher helfen. Leider hatte er keine gute Nachricht für mich. Auf keinen Fall sollte ich mir das antun. Selbst er  würde sich das nicht zutrauen.

Zum Glück setzte jetzt meine Logik ein. Wenn ich ihr nicht half, würde sie sich auf jeden Fall töten – davon waren meine Nachbarin und ich nach Gesprächen mit den Ärzten überzeugt. Wir hatten also eine klitzekleine winzige Chance und keine Ahnung. Keine Ahnung was es heisst, ein schwer erziehbares Mädchen zurück ins Leben zu  begleiten.

Nach drei Monaten wusste ich, was die Hölle auf Erden sein kann. Zwei Jahre später – ich unterrichtete sie nachts in Deutsch und Geschichte, damit sie die Aufnahmeprüfung für ein Gymnasium schaffen konnte – hatte sie den ersten Sprung geschafft: Sie war Schülerin eines Kölner Gymnasiums und Mitarbeiterin in meinem inzwischen gegründeten Institut.

Ein paar Jahre später folgten Abitur und Studium. Nein, nicht Medizin. Inzwischen wollte sie Sozialarbeiterin werden. Doch dann ging es noch anders weiter. Heute sind die Steuern ihr Thema. Maria konnte schon immer schneller rechnen als jeder Computer: Kein Wunder. In der Mathematik ist sie zu Hause. Es hat etwas gedauert bis wir begriffen hatten, dass sie hochbegabt ist.

Wir hatten Glück.

Die Entwicklung hätte auch ganz anders ausgehen können. Was ich dabei gelernt habe: auch mit  sehr schlechten Vorzeichen ist es möglich, den eigenen richtigen Weg zu finden. Selbst wenn der Weg einige Abbiegungen vorgesehen hat: Von der Krankenschwester zum Traumberuf Ärztin zur Sozialarbeiterin zur Marktforschungs-Assistentin und schliesslich zur Herrin der Zahlen. Hier ist sie endlich zu Hause.

Was hilfreich war: Maria wusste, was sie wollte. Sie wollte etwas Sinnvolles tun. Und da sie in ihrem jungen Leben noch nicht so viele Menschen erlebt hatte, die etwas Sinnvolles tun, wählte sie das Augenscheinliche: die Ärztin. Aber das reichte noch nicht allein zum Erfolg. Entscheidend waren meiner Meinung nach: der Mut und die Fähigkeit, gross zu denken, die Begabung, einen fast schon eisernen Willen entwickeln zu können sowie Tatkraft, Disziplin, Fleiss, Konsequenz und Durchhaltevermögen. Welche Rolle spielte dabei, dass sie hochbegabt ist?

Fakt ist: Maria hat sehr hart gearbeitet. Und für diese harte Arbeit ist sie vom Schicksal belohnt worden: Zufriedenheit in einem ‚sinnvollen‘ Leben.

Ich denke: Maria hat kein Monopol auf diesen Erfolg. Warum auch? Ich denke: Andere Menschen können das auch erreichen.

In jedem einzelnen Menschen steckt nicht nur sehr viel mehr an Begabung als er bisher geglaubt hat. Jeder Mensch ist auch ein Kraftpaket. Voller Energie, Ideen und Strahlkraft. Wir brauchen einfach mehr Menschen, die Hilfe zur Selbsthilfe geben. Und wir brauchen Menschen, die bereit sind, an sich zu glauben. Auch und gerade dann, wenn es nicht so gut aussieht. Ich habe immer wieder einen meiner Ausbilder vor Augen. Und seinen Lieblingssatz: „Wenn jeder einzelne Mensch wüsste, welche Grossartigkeit in ihm steckt – die ganze Welt würde nur noch tanzen.“

Ja, Du hast Recht: „Wir alle brauchen die Hoffnung, dass es einen „richtigen“ Weg zum Erfolg gibt.“ Und wir brauchen Menschen, die uns helfen, diesen Weg zu finden. Du zeigst uns das ja wieder einmal auf Deine unnachahmliche Art mit Deiner  Qualitätsmanagerin. Wo wäre sie ohne Deine Hilfe? Auch Hochbegabte dürfen lernen, dass sie Hilfe annehmen dürfen. Sie müssen nicht Tag und Nacht 150 Prozent genial sein. Und sie müssen nicht immer alles selbst machen. Warum beschränken sich gerade Hochbegabte so sehr? So oft?

Hochbegabte dürfen wissen, dass es auch schon mal zwei, drei oder mehr Wege gleichzeitig und/oder hintereinander sein können. Warum nicht zwei oder drei Berufe erlernen und in diesen Berufen arbeiten?

Ich kenne Ärzte, die Seminare geben, die mit Medizin nicht das Geringste zu tun haben. Ich erlebe eine Wissenschaftsmanagerin, die sich neben ihrem Beruf der Kunst hingibt, alternative Heilmethoden lernt und lehrt. Und ich kenne einen ganz besonders hochbegabten Diplom-Ingenieur, der Menschen kostenfrei Französisch-Unterricht erteilt, der ein Brückenbauer zu den Menschen ist und und und

Warum eigentlich nicht?
                                          
Was wir dazu brauchen? Neben unserer Begabung, unserem Willen, Fleiss, unserer Disziplin, Konsequenz und unserem Durchhaltevermögen?


Grösse. Weite. Und Mut.

Ich bin wohl nicht so gut geeignet über Mut zu sprechen. Ich bin da erblich vorbelastet. Mein Vater war besonders mutig. Er hat sich unter Einsatz seines Lebens für andere Menschen eingesetzt, wie mir Augenzeugen berichtet haben. Und später kämpfte er erfolgreich gegen das organisierte Verbrechen.

Von Mutters Seite waren es wohl mehr die Vorfahren in der Familie, die so mutig waren. Im frühen Mittelalter war da ein Ritter Simon Altgelt, der für seinen Mut ausgezeichnet wurde. Und später? Schon sehr früh hörte ich, wie von einem amerikanischen Präsidenten gesprochen wurde. Der hatte ein Buch geschrieben. Über die mutigsten Männer Amerikas. Ja, und einer von ihnen hiess John Peter Altgeld und war ein US-amerikanischer Politiker, der 20. Gouverneur des Bundesstaates Illinois. Das freute mich. Denn ich hatte einen Grossvater, der sehr ähnlich hiess: Peter Altgeld.

Und der Mann, der das Buch „Zivilcourage“ geschrieben hatte, hiess Kennedy, John F. Kennedy.

Das mag sich zwar hier und da nach Abenteuer anhören, aber im Grunde genommen, haben wir doch alle einen Alltag, in dem es darum geht, Probleme zu erkennen, Probleme zu lösen, den Sinn in allem zu erkennen und herauszufinden, wie wir mit diesem Sinn leben können. Und dazu gehört, dass wir unsere Talente finden und den Mut lernen, die Talente zu aktivieren. Und das geht mal besser und mal weniger gut. Selbst die, die scheinbar alles erreicht haben, kennen Zeiten, in denen es nicht so gut läuft. Und die, die meinen, sie kommen nie am Ziel an, erleben Entwicklungen, die sie positiv überraschen.

Ich bin Dir sehr dankbar für Deinen Satz über Opfer und Kampf: „Dass Erfolg neben glücklichen Umständen eben auch Einsatz, persönliche Opfer und häufig auch Kampf bedeutet, erschreckt mich dann nicht mehr, sondern spornt mich an.“ In unserer konsumgeschwängerten Zeit haben wir manchmal verlernt, uns für uns und unsere Interessen einzusetzen. Ja. Ich denke auch: Wir müssen kämpfen. Wir müssen lernen zu kämpfen. Wir müssen es hinnehmen, dass wir dabei Schrammen bekommen und nicht nur unsere Frisur in Unordnung gerät.

Denn wir werden immer wieder konfrontiert mit Negativität. Unter der Negativität zu leiden, ist nicht nur ein deutsches Problem, wie gerne gesagt wird. Dr. Chérie Carter-Scout hält international Vorträge und Seminare zu diesem Thema und sie hat ein feines  Buch[1]  geschrieben. Die Autorin stellt darin die unterschiedlichen Negaholiker-Typen vor und gibt Hilfen, wie man mit ihnen umgehen kann. Ich habe das Buch in meinem Handapparat und kann es wirklich empfehlen. Wir werden immer wieder Negativität erleben. Aber: wir müssen nicht endlos darunter leiden. Negativität kann wie eine Krankheit sein. Und Krankheiten können geheilt werden.

Wie Recht Du hast mit den ‚dämonische Neidern‘ & Co. Mit Überlebenskämpfen, Schlaflosigkeit, Selbstzweifel. Eine harte Zeit. (Auch deshalb ist mir dieses Förderkonzept für Hochbegabte so wichtig. In meiner Vorstellung gibt es so etwas wie Clubhäuser für Hochbegabte.)

Alles hat seine Zeit. Meiner Erfahrung nach ist es hilfreich, sich darauf einzustellen. Ich denke, es gibt für alle Menschen so etwas wie  die „Kuchen-Zeiten“ und die „Schwarzbrot-Zeiten“. So unerträglich Zeiten auch sein können: wer aufmerksam durchs Leben geht, sieht, dass alle Menschen ihre guten und nicht so guten Zeiten haben. Die einen verbergen sie, die anderen wollen die ganze Welt daran teilhaben lassen. Alle Menschen haben Probleme. Mal mehr, mal weniger. Es geht darum zu lernen, die Probleme zu erkennen und sie zu beherrschen anstatt sich von ihnen beherrschen zu lassen. Ich weiss. Es geht nicht von heute auf morgen. Aber es geht.

Ich habe mir Rat geholt. Bei Erika Schuchardt, ehemals Professorin an der Universität Hannover und Mitglied des Deutschen Bundestages. Die Erziehungswissenschaftlerin hat sich auf Krisenverarbeitung spezialisiert. In einem ihrer Bücher[2] analysiert sie auf der Basis von ‚über 2000 Lebensgeschichten aus einem Jahrhundert‘ den Verlauf von Krisen, wie er von Betroffenen geschildert wurde. Schuchardt teilt dementsprechend die Krisen-Entwicklung in acht Phasen ein:

Phase 1: Ungewissheit. Was ist eigentlich los?
Phase 2: Gewissheit. Ja, aber, das kann doch nicht sein …
Phase 3: Aggression. Warum gerade ich?
Phase 4: Verhandlung. Abschaffungsversuche.
Phase 5: Depression. Wozu? Alles ist sinnlos …
Phase 6: Annahme. Ich erkenne jetzt erst.
Phase 7: Aktivität. Ich tue das.
Phase 8: Solidarität. Wir handeln!

In ihrer Analyse kann man selbst gut erkennen und verfolgen, wie die eigene Krise verlaufen ist und wo man gerade steht. Und: was man noch zu bewältigen hat. Gedanklich. Und faktisch. Auch hier gilt wieder: mit einer angemessenen Begleitung schafft man es leichter, die Krise zu überwinden.

Soweit die Theorie, die Grund zur Hoffnung gibt. Auf der ganz praktischen Ebene arbeite ich hier mit meinen Hochbegabten zunächst – soweit sie es schon verkraften können – mit positiven Bildern (Fotos, Kinderzeichnungen), die überall in der Wohnung vorübergehend ausgelegt oder aufgehängt werden. Ich habe immer wieder den Eindruck gewinnen können, dass wir diese positiven Bilder aufsaugen wie ein trockener Schwamm das Wasser aufsaugt. Selbst dann, wenn wir bewusst die positiven Bilder (noch) nicht annehmen können. Besonders gut angekommen sind sonnige Bilder, die Kinder gezeichnet haben und naive Malerei.

Ich mache dann mit den Hochbegabten Meditationen und mediale Entspannungsreisen. Und finde einen mentalen Coach, der ihnen in dieser Zeit immer zur Seite steht. Gläubigen Menschen empfehle ich, morgens und abends zu beten. Studien haben die positive Kraft des Gebetes immer wieder bestätigt.

Es ist genauso wie Du es schreibst: „Denn auch Hochbegabte erreichen – entgegen anderslautender Klischees – nicht alles „mit Links“!“. Mit der Analyse von Erika Schuchardt – so konnte ich es immer wieder beobachten – konnten  sich die Hochbegabten selbst besser verstehen und Kräfte für ihre Entwicklung freisetzen.

Ich bin auch ganz Deiner Meinung, was die Auswahl von Vor-Bildern anbelangt, die wir in diesem Zusammenhang immer wieder empfehlen: „Ich glaube zutiefst, dass alle Persönlichkeiten, welche wir für „groß“ halten, in ihrem realen Alltag auch ganz „normale“ Menschen sind oder waren. Also kann ich mir auch ganz normale Menschen zum Vorbild nehmen – Menschen, die ich persönlich kenne und die mich vielleicht nur mit einer einzigen Stärke beeindrucken, aber ansonsten nichts Spektakuläres an sich haben.“ Ja. Das kann ich. Auch. Aber nicht nur. Ich brauche einfach diese Vielfalt. Mit anderen Worten: Menschen aus allen nur möglichen Gruppierungen – Mitglieder aus allen Sinus-Milieus (vgl. http://www.sinus-institut.de/loesungen/sinus-milieus.html).

Und wieder immer noch sind wir bei den Vor-Bildern. Oder eben bei den Menschen, an denen wir uns orientieren können. Oder die uns Einblicke gewähren, die wir selbst nicht erkennen können. Und selbstverständlich gibt es die auch bei mir. In meinem Büro hängt zum Beispiel das Bild einer nicht mehr ganz jungen Ärztin, die eines Tages in einem Seminar von mir aufgetaucht war. Sie hat so einen faszinierend gesunden Menschenverstand, dass ich niemals mehr darauf verzichten wollte, ihr Bild vor meinem geistigen Auge zu haben. Ich habe das starke Gefühl, dass sie sehr gesund auf mich und meine Räume wirkt! Dichtung oder Wahrheit?

Anfang der 90er Jahre habe ich in Jena, Leipzig und Dresden unterrichtet. Einer meiner Schüler war ein 17jähriger Arbeiter, der so kühne Ideen hervorbrachte, dass ich ihn bat, mit seinen Eltern sprechen zu dürfen. Leider war das keine gute Idee. Am nächsten Tag erschien eine grössere Gruppe von Menschen vor der Baracke: alle seine Familien. Bevor ich seine Eltern bitten konnte, ihren Sohn auf Hochbegabung testen zu lassen, prasselten sie mit Worten auf mich ein. Wenn ich sie richtig verstanden habe – mein Sächsisch steckte damals noch in den Kinderschuhen – so befürchteten sie, dass ich ihm „Flausen in den Kopf setzen wollte“. „Unser Sohn hochbegabt? PAAAHHH“ „Unser Sohn ist anständig!“ „Ein anständiger Arbeiter.“ „Und dass soll er auch bleiben!“ ANSTÄNDIG? IST HOCHBEGABUNG UNANSTÄNDIG?

Noch bevor ich Luft holen konnte, waren alle Familienmitglieder samt Sohn auch schon wieder verschwunden. Meine Klasse durfte er nie mehr betreten. Ich frage mich oft, was aus ihm geworden ist. Und manchmal erzähle ich meinen Hochbegabten von ihm. Denen, die meinen, ohne Mittlere Reife oder Abitur könne man nicht intelligent sein. Und die sich damit selbst blockieren. Dieser Arbeiterjunge aus Dresden ist wohl einer der intelligentesten Menschen, denen ich je begegnet bin.

Traurig, dass ihm nicht geholfen werden konnte. Aber für die etwas Ungläubigen unter den Hochbegabten, die meinen, sie dürfen erst so ‚richtig‘ denken, wenn sie das Abi in der Tasche haben, ist er ein Vor-Bild geworden!

Gleichwohl muss ich noch einmal auf meine „Beraterin“ Elizabeth I zurückkommen. Ich habe sie mir nicht ausgesucht. Eher ist das Gegenteil richtig. Elizabeth war nie eine Person, die ich in der Deutschstunde oder im Geschichtsunterricht geliebt habe. Nüchtern betrachtet zollte ich ihr Achtung und Respekt für ihre politische Arbeit – aber ausgesprochen sympathisch waren mir andere Figuren der Geschichte, wie z. B. Perikles, Platon oder Marc Aurel.

Mit Elizabeth I musste ich mich zwangsweise beschäftigen. Meine Professorin, bei der ich Schauspielunterricht genommen hatte, schmiss mich kurzerhand aus ihrem Kurs, weil ich mich weigerte, die Elizabeth zu spielen. Ich wollte nichts mit dieser  Elizabeth zu tun haben. Nicht mal in einem Theaterstück.

Früher war das  manchmal noch so richtig autoritär: Studenten mussten funktionieren – oder sie wurden vor die Tür gesetzt. Nicht nur mal 10 Minuten oder so. Nein. Für immer. Und so fand ich mich vor der Tür wieder. Und nun hatte ich Zeit zum Denken. Und Fragen stellen. Und lernen. Und so kamen wir uns dann näher. Elizabeth und ich. Damals, vor mehr als 20 Jahren. Und so entwickelte sich eine Beziehung, indem ich lernte Vorurteile abzubauen. Meine Professorin, an die ich trotz alledem mit grosser Dankbarkeit denke, habe ich nie wieder gesehen.

Tja, liebe Karin, Deine Qualitätsmanagerin hat Glück, dass sie Dich gefunden hat. Ich freue mich über Eure Erfolge. Wenn Hochbegabte – wie auch hier – einmal die Schallmauer durchbrochen haben, dann kann vieles „blitzschnell“ und „rasend schnell“ werden. Warum darf man das eigentlich nicht ‚Wunder‘ nennen? Ich finde es ist eins. Und ich bin schon gespannt, wie es weiter geht.

Hirnforschung? Ja. Das gehörte zu meiner Ausbildung als ich H.D.I.-Trainerin geworden bin. Übrigens lese ich aktuell – Du wirst es kennen: „Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns.“[3]

Zu den Spezialschulen für Hochbegabte: Dazu hat mir letzte Woche ein Hochbegabter gesagt, der eine solche Schule besucht hat: „Das war eher eine Enttäuschung.“ Das, was da geboten wurde, hatte er auch zuvor im Internat gelernt. Eine besondere Methode konnte er dort nicht erkennen.  Na gut: es gab ein etwas breiteres Angebot in der Schule für Hochbegabte. Aber Hochbegabte würden sich das dann auch ausserhalb der Schule selbst holen, wenn sie unbedingt z.B. Japanisch lernen wollen.

Gleichwohl: Diese Schule ist eine von  vielen Schulen für Hochbegabte. Und das, was mir der Hochbegabte gesagt hat, ist nur ein (!) Eindruck. Vor dem Hintergrund meiner Vision für Hochbegabte: Ich habe vor zu  diesen und ähnlichen Themen später zu evaluieren (Untersuchungen durchzuführen).

Ich spüre förmlich, wie Dir das Thema Hirnforschung Spass macht. Möchtest Du mich aufklären? Ich freue mich schon darauf!!!

Bevor ich Dir fröhliche Ostertage wünsche, kehre ich noch einmal zum Anfang zurück: zur Politik. In den 80er Jahre gab es im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, in dem ich als Redakteurin arbeitete, einen Pressesprecher, der es liebte, die Presseleute in den April zu schicken. Die alten Hasen unter den Journalisten wussten schon Bescheid, aber für die Praktikanten war es immer wieder ein Fest, eine Pressemitteilung von Manfred H. Obländer zu lesen. Eines Tages schrieb er am 1. April sinngemäss: Wir sollten nicht nur die Menschen  in der Dritten Welt fördern, sondern uns auch näher mit ihrer Kultur beschäftigen. Und die Ideen in Deutschland  übernehmen, die für uns hilfreich sind.

Und er forderte: Rikschas für Deutschland!

Aprilscherz hin oder her:
Ich fand die Idee toll! Rikschas gehören heute schon länger zum Alltag. Zu Recht! Warum nicht auch die Förderung  der Hochbegabten?

Fröhliches Feiern zu O s t e r n. Viel Sonne und Balsam für die Seele,
herzlichst
Deine Lilli


[1] Carter-Scout, Chérie: Negaholiker am Werk. Mit schwierigen Kollegen, Vorgesetzten und Geschäftspartnern gut fertig werden. Frankfurt am Main/New York 1992.

[2] Schuchardt, Erika: Warum gerade ich...? Leben lernen in Krisen, Leiden und Glaube: Leiden und Glaube. Fazit aus Lebensgeschichten eines Jahrhunderts. Göttingen 2005.

[3] Eagleman, David: Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns. Frankfurt am Main/New York 2012.