Fotos: Dr. Karin Rasmussen, Saskia-Marjanna Schulz, Alexandra Gräfin Dohna

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Sonntag, 18. März 2012

Die Kraft der Träume … Und der Albträume

Liebe Lilli,

hahaha – Zwillinge! Die Idee gefällt mir, weil man ja Zwillingen eine gewisse Unzertrennlichkeit nachsagt. Aber natürlich sind wir auch sehr verschieden und ich glaube, nicht nur unsere Mütter können uns problemlos auseinander halten. Wir sind eben, obwohl beide hochbegabt und oft gleicher Meinung, doch unverwechselbar einzigartig – wie alle Menschen. Und das liegt nicht nur an unseren verschiedenen Lebensumständen und Biografien.

Ich danke Dir herzlich für Deinen wieder sehr anregenden Brief! Tatsächlich ist da schon sehr viel Stoff zusammen gekommen, aus dem wir Bücher machen sollten. Denn ich denke, es würden sich dafür zahlreiche Interessenten und Leser finden, die nicht immer erst in unserem Blogarchiv stöbern wollen, um einen unserer Gedanken aufzugreifen und weiter zu entwickeln.

Und es gibt ja tatsächlich viele spannende Fragen – wie zum Beispiel das Thema unseres letzten Gedankenaustausches: Was ist der beste Weg, um sich selbst gerecht zu werden und zu bleiben?

All die klugen Menschen und Bücher, die Du erwähnst und auch die von Dir interviewten Elite- Persönlichkeiten haben doch eines gemeinsam: Sie sprechen und schreiben aus ihrer eigenen Erfahrung – nachdem sie etwas erreicht haben! Und auch die gut gemeinten und sehr überzeugend vorgetragenen „Do what you love“- Ratschläge beruhen in der Regel nicht auf Wunschträumen, sondern sind das Ergebnis positiver Erfahrungen. Deshalb werden sie wahrscheinlich auch so gern gehört, gelesen, wiederholt und weiter gereicht. Wir alle brauchen die Hoffnung, dass es einen „richtigen“ Weg zum Erfolg gibt.

Aber- Du weißt schon, welches „Aber“ jetzt kommt: Hochbegabte haben, wie wir beide wissen, nicht nur eine sehr sensible Wahrnehmung und ein komplexes Gedächtnis, sie haben auch eine sehr vielfältige Traumwelt. Es fällt ihnen meist sehr schwer, sich auf eine bestimmte Ich-Vorstellung festzulegen. Sie haben so viele Potenziale und Kenntnisse auf so vielen Gebieten, dass sie nicht nur EINEN, sondern viele Träume haben. Zu viele! Und diese Träume ändern sich im Laufe des Lebens auch noch. So ist es kein Wunder, dass so mancher meiner Coachees (bei Deinen ist es sicher ähnlich?) gar nicht weiß, welchem Traum er oder sie den Vorzug geben, worauf die Kräfte konzentrieren, worum sich mühen soll.

Und dann sind da ja auch noch die negativen Erfahrungen – eigene und fremde, die uns über die Medien oder über Berichte aus dem Bekanntenkreis mitgeteilt werden. Was man schon alles verpasst hat. Wofür es schon längst zu spät ist. Was alles schiefgehen kann, was man alles „falsch“ machen kann! Daraus werden dann ganz schnell Albträume. Besonders dann, wenn man eben nicht schon seit Kindertagen einen unauslöschlichen Lieblingswunsch hatte (ich will fliegen!!!), dazu auch noch realistische Vorstellungen von einem Weg zur Verwirklichung dieses Traumes (ich mache den Pilotenschein, gehe zur Lufthansa o. ä.!!) und die reale Chance, verbunden mit ständiger Ermutigung durch das Umfeld, diesen Weg auch tatsächlich zu gehen (ich werde Airbus-Pilot!).

Da Hochbegabte auch in ihren Träumen häufig sehr kreativ sind, erleben sie sogar unrealistische Gefahren in ihren Albträumen. Da tauchen dämonische Neider auf, die ungeahnte Steinwälle auf dem Weg zum Ziel errichten, gigantische Katastrophen verhindern den Erfolg und erfordern einen zermürbenden Kampf um das nackte Überleben auf dem niedrigsten (Lohn-)Niveau oder aber der Selbstzweifel meldet sich auch im Schlaf und suggeriert ein vorprogrammiertes Versagen: Der Traum ist zu schön, um wahr zu werden, das Ziel zu groß und der Mensch zu klein, um es zu erreichen. Leider können solche Träume tiefe Eindrücke hinterlassen.  Denn auch Hochbegabte erreichen – entgegen anderslautender Klischees – nicht alles „mit Links“! Sie haben durchaus eigene Erfahrungen mit Misserfolgen und Niederlagen. Also scheinen die Albtraum-Szenarien auch begründet zu sein.

Wir beide, und natürlich auch die meisten Hochbegabten, wissen um die Kraft von Vorbildern. Du nennst ja beeindruckende Namen, die Dich beim Nachdenken und in der Auseinandersetzung mit Deinen Selbstzweifeln begleiten. Und auch Deine Interviewpartner haben (Vor-)Bilder von großen Persönlichkeiten ständig vor Augen.

Nun – meine Vorbilder sind weniger „groß“ und gar nicht berühmt. Ich werde nämlich von dem permanenten Zweifel beherrscht, dass in diesen Bildern von „Größe“ nicht der reale Mensch zum Ausdruck kommt. Die Größe wird ja von einer bestimmten Leistung abgeleitet. Zu dieser Leistung war aber nie nur einer allein fähig, wenn man es genau bedenkt. Es sind eben Bilder – nur Ausschnitte der Persönlichkeit, die in einer nachträglichen Würdigung für die Darstellung gewählt wurden. So ähnlich wie in Nachrufen oder Arbeitszeugnissen. Da darf auch nichts Negatives drin stehen. Klar, man sollte sich ja auch nichts Negatives zum Vorbild nehmen.

Ich glaube zutiefst, dass alle Persönlichkeiten, welche wir für „groß“ halten, in ihrem realen Alltag auch ganz „normale“ Menschen sind oder waren. Also kann ich mir auch ganz normale Menschen zum Vorbild nehmen – Menschen, die ich persönlich kenne und die mich vielleicht nur mit einer einzigen Stärke beeindrucken, aber ansonsten nichts Spektakuläres an sich haben. So entgehe ich der Gefahr, dass meine Vorbilder mir zu groß und damit zu unerreichbar erscheinen. Außerdem kann ich sie häufig ganz real beobachten, von manchen habe ich Bilder in meiner privaten Fotosammlung,  – und direkt von ihnen lernen. Ich muss mir nicht vorstellen, was sie „gesagt oder getan hätten“, wenn sie an meiner Stelle wären – denn das sind sie ja nie! Mit meinen Coachees suche ich ebenso nach solchen realen Vorbildern in ihrer Umgebung. Und dabei wird eines sehr oft deutlich: Auch Hochbegabte übersehen die Talente und Fähigkeiten anderer Menschen. Auch Hochbegabte wissen manches nicht zu schätzen und sind mit ihrer Anerkennung für die Leistungen anderer Menschen ziemlich sparsam. Besonders, wenn ihr eigener Leidensdruck zu groß ist, „rächen“ sie sich mit einer Konzentration auf die Fehler und Schwächen der anderen. Und dann finden sie natürlich keine passenden Vorbilder. Aber die sind da!

In kritischen (und meist nicht von den Helden selbst verfassten) Biografien findet man ebenfalls Beschreibungen ihrer Fehler und Schwierigkeiten. Und es finden sich Darstellungen, wie sie damit umgegangen sind. Wie sie aus Niederlagen gelernt haben. Und mit welchem Mut sie sich selbst großen Schwierigkeiten gestellt haben. In diesem Mut finde ich meine Vorbilder. Dass Erfolg neben glücklichen Umständen eben auch Einsatz, persönliche Opfer und häufig auch Kampf bedeutet, erschreckt mich dann nicht mehr, sondern spornt mich an.

Du schreibst, dass Deine rund 50 interviewten Elite-Persönlichkeiten  neben den Vor-Bildern, mit denen sie sich umgaben, vor allem folgende Einstellungen und Verhaltensweisen zeigten:

  1. Sie waren alle international exzellent vernetzt und betrieben aktive Netzwerkarbeit zu einer Zeit als Deutschland in dieser Hinsicht eher ein Entwicklungsland war.
  2. Sie drückten eine starke Wertschätzung gegenüber sich selbst und allen Beteiligten aus. Auch hier waren sie ihrer Zeit voraus.

Das scheint mir ganz entscheidend zu sein! Beides hängt miteinander zusammen: Nur wen ich wertschätze, wird bereit sein, sich mit mir zu vernetzen. Und mit wem ich vernetzt bin, von dem kann ich lernen! In diesem gemeinsamen Lernprozess wächst dann auch wieder die gegenseitige Wertschätzung – denn Vorbilder und „Lehrer“ lieben lernende „Schüler“. Damit ist natürlich nicht das bloße Nachplappern oder Nachäffen großer Worte bzw. Gesten gemeint. Die eigene Wertschätzung würde darunter ja leiden – die Kopie weiß schließlich, dass sie nicht das Original ist – und alle anderen merken das auch! Vielmehr geht es um echtes Nacheifern: mit Eifer, also Einsatz und Durchhaltevermögen, den Erwerb oder die Verbesserung einer Fähigkeit anzustreben.

Denn wer sich selbst Wert schätzt, kann mit gutem Gewissen den Kontakt zu seinen Vorbildern aufnehmen. Meist sind dazu nur wenige Schritte (im Social Network Xing z.B. nur 4 Kontakte der Kontakte) nötig. Und das ist viel sinnvoller, als in Facebook oder Twitter die Spuren meines aktuellen Speiseplans oder ähnliches zu hinterlassen. Das Gefühl der intellektuellen Einsamkeit verflüchtigt sich praktisch sofort, wenn man durch aktive Netzwerkarbeit den direkten Gedankenaustausch zu einem ernsthaften Thema aufnimmt, das einen gerade brennend beschäftigt. Auch wenn man vorläufig mehr Fragen als Antworten hat. Auch wenn man kein Experte ist. Und auch, wenn man zum Beispiel auf der Suche nach dem eigenen inneren ICH ist, die innere Stimme nicht mehr deutlich genug hören kann. Gerade in diesen Momenten zeigt der Gedankenaustausch (aktive Netzwerkarbeit!) die Gemeinsamkeiten mit unseren Vorbildern und bestärkt uns in unseren Träumen oder Zielen. Denn jeder von uns, nicht nur Hochbegabte(!), hat ein sogenanntes besseres Ich. Nur manchmal wird das verdeckt von den Aufgeregtheiten oder Nichtigkeiten des Alltags. Und dem können wir Widerstand leisten. Gemeinsam erkennt man besser, was wirklich wichtig ist – an uns und an den anderen.

Dann erkennt man auch wieder, wie Du schreibst: „dass ein entspannter Umgang mit Kritik, Zweifel und Fehler ein Segen für alle Beteiligte sein kann.“ Du hast ein Unternehmen von innen gesehen, in dem eine solche Kultur herrscht. Prima – das ist ein weiterer Beweis dafür, dass es geht, dass es sich lohnt und dass es gut tut. Prima, der Aufruf des Personalchefs: „Machen Sie Fehler! Machen Sie ruhig Fehler! Aber, machen Sie diese Fehler bitte nur einmal.“

Das ist eine direkte Aufforderung aus einer schuldorientierten Fehlerkultur eine lösungsorientierte Lernkultur zu machen. Welch großartige Herausforderung! Was für ein weites Betätigungsfeld – für uns, unsere Kollegen und unsere Coachees. Denn die sind ja vor Ort unmittelbar betroffen. Und eigentlich träumen wir doch alle davon, die Lösung VOR dem Fehler zu finden. Aber – gleich danach ist auch noch sehr gut!

In dem Zusammenhang faszinieren mich die rasanten Fortschritte der Neurowissenschaften. Wir sind auf dem besten Weg, das Lernen gehirngerecht zu lernen. Und damit alle schmerzhaften, langweiligen, stupiden oder verletzenden Fehleranalysen in beschleunigte, lustvolle Erkenntnisprozesse zu verwandeln. Welch schöne Aussichten für die hungrigen Gehirne unserer hochbegabten Klientel! Wenn es nicht mehr einsame mühevolle Anstrengung, sondern befriedigende gemeinsame Leistung ist, zu lernen. Wenn wir uns zugunsten besseren Wissens von veralteten Ansichten schmerzfrei trennen können, ohne dabei an Akzeptanz zu verlieren. Wenn Autorität nicht mehr allein auf Position und Image beruht, sondern am tatsächlichen Beitrag zur Lösung von echten Problemen gemessen wird.

Aber da bin ich wohl wieder unserer Zeit ein wenig zu weit voraus.
Träume….
Sie treiben mich!

Liebe Lilli, „meine“ Qualitätsmanagerin macht inzwischen riesige Fortschritte. Nachdem wir in ihrer Biografie einige entscheidende Muster (ich hatte ein ähnliches Vorgehen gewählt, wie Du es vorschlägst) gefunden hatten, konnte sie sich einen neuen Kommunikationsstil erarbeiten. Es ging rasend schnell. Na ja, sie ist hochbegabt – und hatte blitzschnell erkannt, worauf es ankommt. Dann hat sie fleißig geübt, mit mehreren ihrer Netzwerkpartner. Die hatten freundlicherweise (aber für mich nicht verwunderlich) auch schnell Verständnis für das Anliegen. Jetzt wagt sie sich an ihre „Problempartner“. Ich werde sie in den nächsten Tagen wiedersehen und dann bestimmt neue Erfolgsberichte hören.

Beschäftigst Du Dich eigentlich auch mit dem Thema Hirnforschung? Kennst Du vielleicht schon eine Studie oder ein Forschungsprojekt zum Lernen bei Hochbegabten? Es würde mich brennend interessieren, ob der Erfolg von Spezialschulen für Hochbegabte allein auf das bessere Lernumfeld oder eher auf besondere Lehr- und Lernkonzepte zurückgeht. Sind es eher die sozialen Faktoren oder ist es eine andere (gehirngerechtere) Lerntechnologie? Schon klar, wahrscheinlich von beidem etwas- aber was wirkt wie?

Ich freue mich jetzt schon auf Deinen nächsten Brief. Bis dahin ist hoffentlich wirklich Frühling, hier ist noch alles grau. Ach ja, Dein Brief würde wahrscheinlich am 1. April kommen – Du hast also das Privileg zum Scherzen!
Viel Spaß bis dahin und alles Gute für Dich und die Deinen.
Von
Deiner Karin